Gander – Eine Kleinstadt im Ausnahmezustand

Wie am 11. September 2001 tausende Fluggäste in Neufundland strandeten

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Am 11. September 2001 richtet sich der Blick der Welt auf New York. Terroristen lenken zwei Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Centers. Während sich das Drama in Manhattan entfaltet, herrscht über dem Atlantik tagesüblicher Hochbetrieb. Hunderte Maschinen sind auf dem Weg in die USA, darunter auch Lufthansa-Flug 400 von Frankfurt nach New York mit Kapitän Reinhard Knoth im Cockpit. An Bord: 354 Menschen, darunter Prominente wie der damalige Hugo-Boss-Chef Werner Baldessarini und Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth. Doch um 9.15 Uhr New Yorker Zeit ist Schluss: Die US-Luftfahrtbehörde schließt den Luftraum. Über 400 Flüge müssen umgeleitet werden. Kanada aktiviert „Operation Yellow Ribbon“ und nimmt die Maschinen auf – eine logistische und menschliche Mammutaufgabe.

Gander als Drehkreuz

Die Kleinstadt Gander im Osten Neufundlands war einst die „Tankstelle der Welt“. In den 1940er- bis 1960er-Jahren legten hier Kampfbomber und Linienmaschinen einen Zwischenstopp ein; Prominente wie Marilyn Monroe, Frank Sinatra und Fidel Castro gingen ein und aus. In den 1970ern und 1980ern verlor Gander seine Bedeutung – bis zu jenem Septembertag 2001.

An diesem Tag landen innerhalb weniger Stunden 38 Flugzeuge mit 6595 Fluggästen in Gander – fast so viele Menschen, wie in der Stadt wohnen. Bürgermeister Claude Elliott ruft sofort den Notstand aus: Nur 500 Hotelzimmer stehen zur Verfügung, Unterkünfte und Versorgung müssen improvisiert werden. Schulen, Sporthallen, Vereine und Privathäuser werden zu Notquartieren. „Wir wussten nicht, wie viele Menschen es sind und wie lange sie bleiben“, erinnert sich Elliott.

Improvisation und Menschlichkeit

Die Stadtbevölkerung reagiert spontan. Freiwillige organisieren Schlafplätze, kochen und verteilen Lebensmittel. Supermärkte und Apotheken geben Waren und Medikamente kostenlos aus, der Golfclub öffnet gratis, Telefone werden zur Verfügung gestellt. Sogar Haustiere und exotische Tiere aus den Frachträumen – darunter zwei Zwergschimpansen – werden in leerstehende Hangars gebracht. Fluglotse Reg Batson und seine Kollegen arbeiten unter Hochdruck, um den Luftverkehr sicher zu leiten. „Wir wollten alle Flugzeuge schnell vom Himmel holen“, sagt er. Kapitän Reinhard Knoth erlebt, wie die Crew Trolleys vor die Treppe schiebt, um das Cockpit zu sichern – niemand wusste, ob nicht noch mehr Terrorakte in Planung waren. Zehn Stunden sitzen die Menschen im Flugzeug fest, bevor sie in Schulbussen in ihre Unterkünfte gebracht werden – wo sie zum ersten Mal die Fernsehbilder aus Manhattan sehen.

In dieser Ausnahmesituation entstehen Geschichten, die bis heute erzählt werden. Eine Neufundländerin nimmt drei Frauen bei sich auf und organisiert rund um die Uhr Duschen und Sandwiches. Ein Polizist fährt einen deutschen Rentner zum Zigarettenholen. Kinder feiern spontan Geburtstage, Freiwillige backen Kuchen und richten Spielzimmer ein. Ein amerikanischer Passagier lernt eine Britin kennen – später heiraten sie.

Auch die Prominenten fügen sich dem Unvermeidlichen. Baldessarini lehnt den Privatjet eines Geschäftspartners ab, um „bis zum Ende durchzustehen“. Petra Roth hilft im Rathaus bei der Organisation mit. Als der Luftraum nach fünf Tagen wieder geöffnet wird, starten die Flugzeuge nach und nach. Die Fremden verabschieden sich unter Tränen, die Neufundländer stehen Spalier und singen.

126 Stunden dauert der Ausnahmezustand. Die Fluggäste richten spontan einen Fonds ein, der bis heute Stipendien für Schüler:innen in Gander vergibt. Die Lufthansa tauft 2002 einen Airbus auf den Namen „Gander/Halifax“. Im Rathaus liegen Aktenordner voller Dankesbriefe. Bürgermeister Elliott sagt: „Wir haben vielen Menschen das Vertrauen in das Gute zurückgegeben.“

Der Weg zum „Doku-Musical“ Come From Away

Die Ereignisse von Gander inspirierten Irene Sankoff und David Hein zu dem Musical Come From Away. Es basiert auf Interviews mit Einheimischen und gestrandeten Reisenden, die ihre persönlichen Erfahrungen schilderten. Figuren wie Bürgermeister Elliott, Polizist Oz Fudge, die Tierfreundin Bonnie Harris, Nick Marson aus Schottland, der in Gander seine spätere Frau Diane kennengelernt hat, oder die freiwillige Helferin Beulah Cooper finden sich – teils als zusammengesetzte Charaktere – auf der Bühne wieder.

2013 erste Workshops, 2015 Premieren in Nordamerika, 2017 Broadway: Come From Away wird zum Überraschungserfolg, erhält Tony- und Olivier-Awards und wird weltweit nachgespielt – in Großbritannien, Kanada, Australien, Skandinavien, Argentinien, Spanien, Seoul, Tokio, Deutschland und sogar in Gander selbst. Die minimalistische Inszenierung – wenige Kulissen, ein Ensemble in wechselnden Rollen – verdichtet das Geschehen zu einem bewegenden Porträt menschlicher Solidarität.

Das Musical vermittelt nicht nur historische Fakten, sondern viele Emotionen: Angst, Mitgefühl, Humor und Hoffnung. Viele Zuschauer:innen berichten, dass sie nach der Vorstellung „anders hinausgehen“ – bewegt, inspiriert, manchmal auch versöhnt. Come From Away ist so zum künstlerischen Denkmal jener Tage geworden, an denen eine kleine Stadt Großes leistete.

Österreichische Erstaufführung

Das Musicalensemble des Landestheaters Linz präsentiert nun die Österreichische Erstaufführung von Come From Away – Die von woanders in einer Inszenierung von Musicalchef Matthias Davids (zuletzt Something Rotten!), choreografiert von Kim Duddy (u. a. Natascha, Pierre und der Große Komet von 1812), in einem Bühnenbild von Andrew D. Edwards (u. a. Wonderland, Shrek), mit Kostümen von Adam Nee (u. a. Priscilla) mit allen 13 fixen Mitgliedern des Musicalensembles. Die Band unter Leitung von Tom Bitterlich wird offen im Bühnenbild zu sehen sein, um mit Bodhrán, Fiddle und jeder Menge Whistles die lebensfrohe Mischung aus Folk, keltischer Musik und Musical-Pop ins Musiktheater zu bringen.

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