Ethnologische Spuren in der Opernwelt
Doch was sich den Anschein einer hochadeligen Gepflogenheit des galanten Zeitalters gibt, verweist gleichzeitig auf uralte bei Stammesvölkern gepflegte Rituale. Viele von diesen findet man in dem Buch Übergangsriten des französischen Ethnologen Arnold van Gennep beschrieben. Dieses Werk erschien erstmals im Jahre 1909, also genau zu der Zeit, als Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal erste Überlegungen zu ihrem gemeinsamen Rosenkavalier-Projekt anstellten. Van Genneps Buch jedenfalls stieß damals in intellektuellen Kreisen auf großes Interesse, sodass nicht auszuschließen ist, dass auch Hofmannsthal auf diesen späteren Klassiker der ethnologischen Literatur aufmerksam geworden ist. Auf alle Fälle berichtet van Gennep in seinem Kapitel über Verlobungs- und Heiratsriten von den Gepflogenheiten des am russischen Ural ansässigen Volksstammes der Baschkiren. Dort ist es einem Bräutigam erst gestattet, das Haus der Braut zu betreten, nachdem Verwandte oder Freunde des Mannes der Brautfamilie Geschenke überbracht haben.
Archaische Rituale im Gewand des Rokokos
Man mag bei einer Oper wie dem Rosenkavalier mit ihrer stilisierenden und ästhetisierenden Sprache, ihrer raffinierten Musik und ihrer in der Kunstwelt eines imaginären Rokokos angesiedelten Handlung nicht unbedingt an archaische Rituale von fernen Stammesvölkern denken. Gleichwohl ist dieses Vorgehen, sich bewusst oder unbewusst aus einem Reservoir uralter Gepflogenheiten zu bedienen, um Traditionen neu zu erfinden, symptomatisch für einen Menschen wie Hugo von Hofmannsthal. Denn der Dichter hing an dem geordneten Wiener Kosmos der österreichischen Monarchie. Seine Tragik war jedoch, dass er wusste, dass diese aristokratisch geprägte Gesellschaftsform in den modernen Zeiten, in die er hinein geboren worden ist, keinen Bestand haben würde. Und so versuchte er, diese vom Untergang bedrohte Welt mit seinen Werken im Allgemeinen und mit der Erfindung von Traditionen wie der Rosenüberreichung im Besonderen zwar nicht künstlich, aber doch in und mit seiner Kunst am Leben zu erhalten.