Wird ein Mann erst als Frau zu einem besseren Mann?

Tootsie und die Gender-Debatte

PremierenfieberTootsie

Am 10. Oktober 2022 stellte Nils Pickert seine Kolumne im Standard unter den Titel „Arbeit am besseren Mann“. Darin entwirft er die Utopie einer Welt mit „zärtlichen, freundlichen, gewaltfreien und gütigen“ Männern. Die traditionell meinungsfreudige Standard-Leserschaft (die Leserinnenschaft eher weniger) bedachte den Artikel in der Folge mit 837 Online-Kommentaren, in der Mehrheit kritisch. Der Leser mit dem Namen „DailyReader“ zum Beispiel verweist auf die seiner Meinung nach evolutionär notwendige Anlage des Mannes zu Aggression und Gewalt:

Es waren einmal Gemeine Schimpansen – „gemein“ im wahrsten Sinne des Wortes – und friedfertige Bonobos. Die Schimpansen hatten Konkurrenz, mussten sich behaupten, wurden aber auch mit Nahrung belohnt, wenn sie sich durchsetzen konnten. Das zog die Weibchen an. Die harschen Umweltbedingungen haben die Schimpansen geprägt. Vielleicht wäre die Spezies Homo sapiens ausgestorben, hätte sie es nicht geschafft, sich anzupassen. Dazu gehört die Fähigkeit zu Gewalt. Männer ohne Aggressivität – Gewalt bei Bedarf – wirken unattraktiv, pflanzen sich seltener fort, und das lasche Merkmal wird evolutionär verschwinden.

AGGRESSION ZIEHT DIE WEIBCHEN AN?

Ihnen sträuben sich womöglich die Nackenhaare ob der recht verqueren Schlusstechnik: Müssen sich Schimpansinnen eigentlich nicht durchsetzen? Wenn „Laschheit“ evolutionär verschwindet, woher kommen dann die vielen laschen Typen, die man jeden Tag auf der Straße, im Büro oder im Parlament sieht? Und warum gibt es eigentlich die friedfertigen Bonobos noch? Ein Punkt geht trotzdem an DailyReader: Warum ziehen durch „harsche Umweltbedingungen“ geprägte aggressive Männer wie Putin, Trump, Orbán und Kickl so viele „Weibchen“ – und noch mehr Männchen – an, dass sie trotz  ihrer Verachtung von Demokratie und Gewaltenverteilung bei Wahlen so viele Stimmen sammeln? Wirken weniger aggressive Männer tatsächlich unattraktiv – und pflanzen sich deshalb seltener fort?

TEILZEITROCKTRÄGER VS. OBERKÖRPERFREIREITER

So aus dem Bauch heraus liegen meine Sympathien eher beim „Teilzeitrockträger“ und „Prinzessinnenjungs-Erzeuger“ Nils Pickert als bei den Pussygrabschern, Breitbeinigdasitzern und Oberkörperfreireitern. Die Rockträger sind zwar in der letzten Zeit in den Städten gefühlt mehr zu sehen, aber ein Teil der politischen Klasse hält es offenbar für angemessen, sie in die gleiche Schublade zu stecken wie Hassprediger und Nazisympathisanten. „Bist du noch normal?“, Kanzler Nehammers schon jetzt legendäre Frage in einem von der ÖVP im Sommer veröffentlichten Werbevideo radikalisiert die bürgerliche Forderung nach „Maß und Mitte“ zu „Jeder, der nicht ist wie wir, ist ein Extremist“.

DER SCHWEFELGERUCH VON „CHARLEYS TANTE“

Hat das Theater etwas zu dieser Debatte zu sagen? Womöglich sogar das Theater in seiner besonderen Ausprägung des Musicals? Musicals sind ja eher berüchtigt für die Verwendung von Klischees zur Erzeugung von Humor (oder zumindest Gelächter). Und wenn sich in Tootsie ein Mann als Frau verkleidet, liegt der Schwefelgeruch von Charleys Tante in der Luft. Schon 1982, als die Filmvorlage mit Dustin Hoffman herauskam, war Regisseur Sydney Pollack zunächst skeptisch. Es geht ja nicht wie in dem 1978 veröffentlichten Film La Cage aux folles und dessen gleichnamiger Musicaladaption um schwule Charaktere, sondern um einen erfolglosen heterosexuellen Schauspieler, der erst als Frau eine Hauptrolle bekommt. Das hätte eine ziemlich billige Haudrauf-Komödie werden können. Zum Glück erkannten die Macher – unter ihnen übrigens auch der Buchautor von Die spinnen, die Römer!, Larry Gelbart – die Chancen, die der Stoff birgt. Dustin Hoffman fasste dies später so zusammen: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der erst als Frau zu einem besseren Mann wird.“ Die Erfahrung, in Gestalt einer Frau Sexismus und Machismus selbstherrlicher Alphamännchen zu erleben, bringt einen „normalen“ Mann zum Nachdenken und erlaubt ihm, auch sein eigenes Verhalten zu hinterfragen.

DARF EIN:E SCHAUSPIELER:IN KÜNFTIG NUR SICH SELBST SPIELEN?

Hier lassen sich womöglich Berührungspunkte zu einer weiteren aktuellen Debatte entdecken. Ausgehend von der „Blackfacing“-Diskussion, die inzwischen weitgehend entschieden scheint, gibt es nun Stimmen, die bezweifeln, dass auf der Bühne oder im Film schwule oder lesbische Charaktere durch Heteros, behinderte Figuren durch Nichtbehinderte, Ägypterinnen durch Österreicherinnen etc. angemessen dargestellt werden können. Auch Dustin Hoffman sagte zum Beispiel kürzlich, er würde heute eine Rolle wie die in Rain Man nicht mehr spielen, um keine Gefühle von Autist:innen zu verletzen. Auch der 2021 veröffentlichte Musicalfilm Music erfuhr viel Kritik, da in ihm eine junge Autistin von einer nichtautistischen Darstellerin gespielt wird. Die Regisseurin hatte zunächst nach einer autistischen Schauspielerin gesucht, empfand die Zusammenarbeit aber als „zu anstrengend“.

Aus der Sicht von Theaterleuten entsteht bei einer konsequenten Weiterführung des Identitätsgedankens im Film und auf der Bühne ein Dilemma. Wenn es um Authentizität geht, darf dann künftig ein:e Schauspieler:in nur noch sich selbst spielen? Ist die Zukunft des Theaters die Reality-Soap? Ich meine, das kann niemand wollen. Die Grundidee der Schauspielerei – in die Rolle eines anderen Menschen zu schlüpfen – wird hier in Frage gestellt und letztlich ad absurdum geführt.

Michael Dorsey, der erfolglose Schauspieler, der sich in Tootsie auf eine Frauenrolle bewirbt und endlich Erfolg hat, hat einen Kumpel, Jeff Slater (im Film gespielt von Bill Murray), der mit stets lakonischem Witz kommentiert, was Michael so anstellt. Und so prophezeit er Michael ganz nüchtern, was ihm (und vielleicht uns Männern im Allgemeinen) einmal widerfahren werde:

„WENN GOTT EINE FRAU IST, WIRST DU EWIG IN DER HÖLLE SCHMOREN.“

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