Zauberhaft und zeitlos real

Andrey Kaydanovskiy lässt Dornröschen am Landestheater Linz erwachen.

DornröschenPremierenfieber

Tschaikowsky hielt Dornröschen für sein bestes Ballett. Bereits kurz nach der Uraufführung am 3. / 15. Jänner 1890 am Mariinski Theater in Sankt Petersburg galt Dornröschen in der Choreografie von Marius Petipa als wegweisendes Stück, auf das sich auch Sergej Diaghilew in seiner Arbeit mit den Ballets Russes berufen sollte. Seine Bearbeitung The Sleeping Princess brachte die vertanzte Version des Märchens schließlich erstmals nach Westeuropa. Für diese Inszenierung wurden allerdings weitreichende Eingriffe in das Stück vorgenommen – bis hin zu zusätzlicher, von Igor Strawinsky komponierter Musik. Der Grund für den großen Erfolg dieses Balletts dürfte auch die Wahl der Vorlage gewesen sein. Denn Tschaikowsky und Petipa orientierten sich nicht etwa an der hierzulande bekannten Fassung der Brüder Grimm, sondern an der französischen Variante des Märchens La Belle au bois dormant, welche Charles Perrault im 17. Jahrhundert niedergeschrieben hatte.

Den Brüdern Grimm war die Geschichte des Franzosen durchaus bekannt, was sie in den frühesten ihrer Anmerkungen ebenfalls festhielten. So bearbeiteten Wilhelm und Jakob Grimm „ihr“ Dornröschen laufend, bis es sich mit der Zeit immer mehr an Perraults Die schlafende Schöne im Wald annäherte. Insofern stimmen die beiden Versionen in den wesentlichsten Punkten überein. Eine bezaubernde Prinzessin, eine böse und eine gute Fee, eine Spindel, eine verschlafene Hofgesellschaft und ein mutiger Prinz sind in beiden Erzählungen die märchenhaften Hauptelemente. Die Feier für das Kind ist ein Fest der Freude und zum Schluss steht eine Hochzeit. Dennoch weisen die Texte auch eine ganze Reihe von Unterschieden auf, gerade auf ihren kulturellen Hintergrund bezogen. Im Gegensatz zu dem französischen Text spielt Religion bei den Brüdern Grimm kaum eine Rolle, da sich ihre Erzählung eher in der germanischen Mythologie verorten lässt.

ANDREY KAYDANOVSKIY UND „DORNRÖSCHEN“

Dornröschen zieht sich wie ein roter Faden durch die berufliche Biografie des Choreografen Andrey Kaydanovskiy, dessen neuentwickelte Choreografie in Linz zu sehen sein wird. Bereits mit zwölf Jahren tanzte Andrey Kaydanovskiy am Bolschoi Theater in Moskau in Dornröschen. Es sollte das einzige Ballett bleiben, in dem er in Russland als Tänzer mitwirkte, bevor er nach Österreich auswanderte. Doch auch dort blieb Dornröschen präsent – an der Wiener Staatsoper erhielt er sein fixes Engagement nach der Premiere ebendieses Stückes.

Andrey Kaydanovskiy, geboren in Moskau, wurde nach Beendigung einer vielseitigen Ausbildung – von der Bolschoi-Ballettakademie in Moskau über das Ballettkonservatorium in St. Pölten bis zur John-Cranko-Ballettakademie in Stuttgart und der Ballettschule der Wiener Staatsoper – 2007 an das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper engagiert. 2015 zum Halbsolisten ernannt, blieb er als Tänzer 15 Saisonen im Ensemble der Staatsoper. Mit gerade einmal 35 Jahren blickt Andrey Kaydanovskiy allerdings auch auf eine Karriere als Choreograf zurück, die ihresgleichen sucht. Bereits im Jahr 2009 präsentierte Andrey Kaydanovskiy seinen ersten Tanzabend. Im April 2013 choreografierte er mit Zeitverschwendung erstmals für das Wiener Staatsballett. Seine Wandelbarkeit und seinen Ideenreichtum stellte er im Jahr darauf ebenfalls unter Beweis, indem er die Eröffnungsfeier des Life Balls inszenierte. Es folgten Choreografien und Inszenierungen für das Hamburger Ballett, das Wiener Staatsballett sowie für das Bayerische Staatsballett in München.

Auch für die TV-Übertragung des weltweit ausgestrahlten Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker zeichnete er 2019 verantwortlich. Dort kreierte er gemeinsam mit dem Wiener Staatsballett den Walzer Künstlerleben und den Pazman-Csárdás von Johann Strauss. Dieses Programm war in beinahe 100 Ländern weltweit mitzuerleben. Zusätzlich erhielt Kaydanovskiy zahlreiche Preise für sein Schaffen, etwa den Sonderpreis als „Bester Tanztheaterperformer und Choreograf“ beim Internationalen Tanzfestival TANZOLYMP in Berlin sowie den „Deutschen Tanzpreis 2016“ in der Kategorie „Zukunft“.

Seit dieser Spielzeit widmet sich Andrey Kaydanovskiy ausschließlich der Choreografie. Zunächst inszenierte er in Zusammenarbeit mit Lotte de Beer Jolanthe und der Nussknacker an der Wiener Volksoper. Nur zwei Tage nach der Wiener Premiere begann er mit TANZ LINZ die Arbeit an seiner Version von Dornröschen, welche knapp vor Weihnachten im Musiktheater Premiere feiert.

Die Basis für Kaydanovskiy ist das klassische Ballett. „In meiner Arbeit entwickle ich Charaktere mit Gedanken und Gefühlen. Perfektion in Technik, Präzision, Schritten und deren Kombinationen sind notwendige Voraussetzungen, um sich auf das konzentrieren zu können, was man mit diesen Mitteln ausdrücken will“, so der Künstler. In seinen Choreografien möchte Kaydanovskiy jedoch nicht nur den Körper in Bewegung zeigen, sondern auch eine Geschichte erzählen. Die Tänzer:innen geraten in eine aktive Auseinandersetzung mit ihren Rollen und dürfen ihr darstellerisches Talent unter Beweis stellen. Dabei verzichtet er jedoch nicht auf Verspieltheit, Humor und Ironie.

Dornröschen, dem populärsten der klassischen Ballette des internationalen Standardrepertoires, verleiht Andrey Kaydanovskiy ein zeitgenössisches Narrativ und lässt es in der Gegenwart ankommen. Dabei setzt er sich intensiv mit der Symbolik des Märchens auseinander. In einem Prolog und zwei Bildern erzählt Andrey Kaydanovskiy die Geschichte Auroras von dem Zeitpunkt ihrer Geburt bis zur Volljährigkeit. Sie wird in eine von Hedonismus geprägte Welt und Familie geboren, deren Lebensstil in einer Art Kammerspiel ein vollständiges Gesellschaftspanorama entwirft.

Dornröschen ist nach der Deutung des Psychoanalytikers Eugen Drewermann eine junge Frau, die nicht erwachsen werden kann, da es ihr nicht gelingt, sich aus der für sie schicksalhaften und auch angst- sowie schulderfüllten Bindung zu den Eltern zu lösen. Schon ihre Geburt ist mit zu vielen Wünschen und Sehnsüchten befrachtet. Diese spiegeln sich in den zwölf Feen wider, die die Werte Schönheit, Reichtum, Moral, Geduld, Leistungsstärke, Intelligenz, Kommunikationstalent, Perfektionismus, Anpassungsfähigkeit, Konsequenz und Gesundheit verkörpern. Die 13. Fee – Carabosse – dagegen, symbolisiert die Sexualität.

Während das zentrale Motiv des Märchens die Passivität und das lange, hundert Jahre andauernde Warten der Protagonist:in auf die Erlösung aus dem Zauberschlaf ist, legt Kaydanovskiy den Fokus auf das Erwachen aus dieser Welt, deren rosarote Märchenhaftigkeit über ihre realitätsverweigernde Enge hinwegtäuscht. Den Choreografen interessiert der schwierige Prozess des Erwachsenwerdens und der lange Weg zur selbstbestimmten, erfüllten Frau.

In Kaydanovskiys Dornröschen fällt Aurora nach einem Unfall in einen tiefen Schlaf, in dem das Unbewusste an die Oberfläche dringt. Sie befindet sich zu dem Zeitpunkt des Unfalls in einer Übergangsphase, am Beginn der Pubertät, der Verwandlung vom Kind zur Frau, dem Zwischenschritt zur körperlichen und seelischen Reife. Das Erwachen hingegen deutet auf das Ankommen in einer realen Wirklichkeit als erwachsene Frau hin, die nun bereit ist für Liebe und Sexualität. In diesem Moment trifft sie ihren Prinzen. Andrey Kaydanovskiy setzt in seiner Interpretation von Dornröschen auf Zeitlosigkeit. In der Psychoanalyse dagegen versinnbildlicht der Hundertjährige Schlaf Dornröschens Unvermögen, im Leben und in der Liebe voranzukommen. Deshalb, so Drewermann, sei sie nun von der Welt isoliert und führt „ein Leben, das verträumt wird und nie in die eigene Realität kommt“.

Der Choreograf entwirft die Geschichte einer Suche nach selbstbestimmter Freiheit und Identität – erzählt aber auch von unfassbarer Kraft, Schönheit, Liebe und Sehnsucht. Auf die Frage, warum er sich für die zeitgenössische Interpretation entschieden hat, die hier sowohl in der szenischen wie musikalischen Umsetzung vom Original Peter Iljitsch Tschaikowskys abweicht, antwortet Andrey Kaydanovskiy, dass er hier mit allen „Zutaten“ arbeitet, die er zur Verfügung hat. Andrey Kaydanovskiy ist mittlerweile bekannt dafür, dass er gerne mit neuer Musik arbeitet. Auch bei Dornröschen bleibt er nicht nur bei der Originalpartitur von Tschaikowsky, hier unter der Musikalischen Leitung von Marc Reibel mit dem Bruckner Orchester, sondern setzt zum Teil auch das Sounddesign von Angel Vassilev ein.

Ebenso ist die Zusammenarbeit mit dem TANZ LINZ Ensemble eine andere, da sich das Kollektiv bestehend aus 16 Charakteren nicht nur in der Anzahl der Tänzer:innen von einem klassischen Ballettensemble unterscheidet, sondern vor allem durch seine tänzerische und künstlerische Vielfalt. Dies erachtet der Choreograf als sehr großen Vorteil, da ihm so eine große Palette an Möglichkeiten zur Verfügung steht, um mit seinem langjährigen Team, der Bühnenbildnerin Karoline Hogl, der Kostümbildnerin Melanie Jane Frost und dem Lichtdesigner Christian Kass ein prachtvolles, farbenreiches, humorvolles Spektakel an der Grenze zur Absurdität für die ganze Familie zu kreieren.

Weitere Themen

Memoryhouse | Foto: Robert Josipovic
Tanz

Tanz International – Erinnerung und Gegenwart

Auf der Bühne des Linzer Schauspielhauses rührt der Tanz an den Reservoirs der Vergangenheit und lässt Erinnerung und Gegenwart aufeinandertreffen. Die Soiree erprobt Annäherungen durch die vielschichtige Welt des internationalen Tanzes. Die Linzer Monika Leisch-Kiesl & Joachim Leisch antworten mit ihrer Tango Argentino Performance auf einen knapp 10-minütigen Ausschnitt von Gdzie są niegdysiejsze śniegi / Where Are the Snows of Yesteryear von Tadeusz Kantor in einer Aufnahme von 1984.

PremierenfieberTanzLinzMemoryhouse
Romeo und Julia
Tanz

Romeo und Julia

Mit Romeo und Julia, der berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten, die in den Jahren 1594 bis 1597 von William Shakespeare geschrieben worden ist, eröffnet TANZ LINZ die Saison. Die gebürtige Engländerin Caroline Finn übernimmt die Choreografie und debütiert damit in einem österreichischen Theater. Gemeinsam mit TANZ LINZ und dem Bruckner Orchester Linz, unter der Musikalischen Leitung von Marc Reibel, wird sie das berühmte Werk am 7. Oktober 2023 auf der großen Bühne des Musiktheaters zur Premiere bringen. In einem Gespräch mit Roma Janus, der Künstlerischen Leiterin der Sparte Tanz, gibt sie den ersten Einblick in ihre künstlerische Herangehensweise und ihre Inspirationen für die bevorstehende Inszenierung.

RomeoUndJuliaPremierenfieberTanzLinz
Labo Traces
Tanz

Eine Spurensuche nach Zukunft und Herkunft

Jeden Morgen um 10 Uhr betreten die Tänzer:innen von TANZ LINZ ihren Arbeitsplatz – den Ballettsaal im Musiktheater. Mit dem neuen Format LABO TRACES hat sich TANZ LINZ nun dazu entschieden, genau diesen besonderen Raum zu öffnen und mit dem Publikum zu teilen. Doch dafür braucht es auch ein spezielles Stück, das nicht nur dem Raum Rechnung trägt, sondern auch die Menschen widerspiegelt, die diesen Raum jeden Tag mit Leben füllen. So entstand LABO TRACES.

LaboTracesTanzLinz
Tanz Linz Neuzeit
Tanz

Schönheit und Rohheit

In neuzeit, dem neuesten Stück von Johannes Wieland, ist die Zeit, die Suche nach einem Ausweg, das kontrollierende Zeitgefüge zu sabotieren, das leitende Narrativ seiner choreographischen Auseinandersetzung.

Premierenfieberneuzeit
Tanz

GROSSE EMOTIONEN! PERFEKT INSZENIERT! FURIOS VERTANZT!

Mit Bilder einer Ausstellung schafft Mussorgsky einen klanggewaltigen Klavierzyklus, der in seiner Modernität und Klangfarbigkeit bereits das 20. Jahrhundert vorausahnen lässt. Tanzdirektorin Mei Hong Lin taucht zusammen mit dem Klangkomponisten und DJ RANDOMHYPE choreografisch tief in die Klangmassen des Werks ein, um mit TANZLIN.Z bekanntes Bewegungsmaterial neu zu formen und in einen anderen Kontext zu stellen.

Premierenfiebertanzlin.zBilder einer Ausstellung
Tanz

14 Fragen an Rie Akiyama

1 Was ist dein Morgenritual? Teetrinken, während ich meinen Tagesablauf organisiere. 2 Als welches Tier wärst du glücklich? Vielleicht als…
14Fragen