Wie Sand, der durch eine Sanduhr rinnt

Zur Premiere des neuen Tanzstücks der TANZ LINZ Company Traumzeit.

PremierenfieberTraumzeit

Traumzeit ist das neue Tanzstück der TANZ LINZ Company. Der Ausgangspunkt dieses Stückes, dessen Idee vor einem Jahr entstanden ist, war der Ursprung und das Phänomen der Zeitbemessung.

Seit Monaten entwickelt TANZ LINZ nun das Konzept. Diesmal wagen sich fünf der Tänzer:innen, Angelica Mattiazzi, Katharina Illnar, Lorenzo Ruta, Pedro Tayette und Yu-Teng Huang an die Choreografie, gleichzeitig verzichten sie jedoch nicht auf den eigenen Bühnenauftritt. So ungewöhnlich es ist, dass fünf Choreograf:innen gemeinsam ein Stück kreieren, so entsteht doch gleichzeitig ein unvergleichlicher Prozess, in dem unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Emotionen auf einen Nenner gebracht werden müssen. Auch die anderen Company-Mitglieder wurden in die Recherchephase eingebunden, indem sie an einer Umfrage zum Thema „Traumerfahrungen“ teilgenommen haben. Gemeinsames Ziel ist nun, daraus klare Bilder und Emotionen zu kondensieren und diese in Bewegungsabläufe zu übersetzen.

Die Quelle der Inspiration waren Erfahrungen und Meinungen der anderen, wie sie ihre Träume erleben, aber auch wissenschaftliche, psychologische Theorien, wie die Traumdeutung von Sigmund Freud, mit der die Psychoanalyse im Jahr 1900 begründet wurde, oder Traumsymbole nach C. G. Jung. Freud interpretiert die Träume als Wunscherfüllungen.

Die unterdrückten Wünsche und Triebe aus dem Unbewussten drängen während des Schlafes ins Bewusstsein, werden aber von einer zensierenden psychischen Kraft derart entstellt, dass die Träume meist abstrakt, seltsam oder sogar absurd erscheinen. Anhand von über 100 Träumen zeigt Freud, dass angeblich alle Träume einen sexuellen Hintergrund besitzen. So erlebe beispielsweise jemand, der vom Fliegen träumt, dies oft als eine Art Rauschzustand. Man fühlt sich leicht, über alles erhaben, unangreifbar. Sigmund Freud deutet das Träumen vom Fliegen als erotische Wunschvorstellung und als Bedürfnis, Grenzen – auch selbstgesetzte – oder Konflikte zu überwinden.

Wie Freud betrachtete auch C. G. Jung Träume als Ausdruck des Unterbewusstseins. Im Gegensatz zu Freud beschränkte C. G. Jung die Quelle dieser Ausdrücke jedoch nicht nur auf die Libido. Hatten Träume laut Freud ihre Ursprünge hauptsächlich in der Unterdrückung der natürlichen Triebe und der Sexualität, sah Jung in Träumen primär die Aufarbeitung des Tagesgeschehens während des Schlafs.

Traumzeit Probe
Foto: Tom Mesic

TRAUM UND ZEIT ALS HISTORISCHE KONSTANTE

Träume sind ein Phänomen, das die Menschheit seit frühesten Zeitaltern fasziniert und geängstigt hat. Bei den Völkern der Antike galten Träume als Kontaktmöglichkeit mit den Göttern, Homer bezeichnete den Traum etwa als ein „geflügeltes Wesen“, das göttliche Nachrichten überbringen könne. Der griechische Philosoph Demokrit vermutete hingegen göttliche Botschaften im All, die durch die Poren der Haut den Traum betreten. Einzig Aristoteles bezog Träume auf die Innensicht des Menschen und nicht auf äußere Einflüsse. Die Stoiker im alten Rom tendierten jedoch wieder zu der These der göttlichen Botschaften, die der Träumende empfange. Auch die frühen Christ:innen teilten diese Ansicht. In der Bibel liest man beispielsweise vom berühmten Traumdeuter Joseph, der in der Gefangenschaft die Träume des Pharaos interpretierte. Die Kirchenväter begegneten den Träumen jedoch mit Skepsis: Augustinus vermutete in ihnen statt göttlicher Eingebung eher das Werk des Teufels. Die vernunftbetonte Aufklärung lehnte Träume als Fantasiegebilde grundsätzlich ab, während die Romantiker besonders gerne träumten. Novalis bezeichnete Träume als „Schutzwehr gegen die Gewöhnlichkeit“. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich kaum mit der Erforschung von Träumen bis zu Sigmund Freuds Traumdeutung und der Begründung der Psychoanalyse.

DAS TANZSTÜCK

Das Tanzstück Traumzeit handelt von der Zeitwahrnehmung eines Individuums in beiden Realitäten – der des Traumes und der unserer materiellen Wirklichkeit. Zeit ist die sich verändernde Konstante, wie Sand, der durch eine Sanduhr rinnt. Im Traum erfährt man eine ganze Bandbreite von Gefühlen – von Glück bis hin zu existenziellen Ängsten. Diese spiegeln sich jedoch nicht nur im Individuum, sondern auch auf der Makroebene, in der Gesellschaft, wider. Solchen kollektiven Glaubenssätzen wollen sich die Künstler:innen mit Traumzeit annähern.

Die Choreograf:innen verbinden hier in vier Bildern, die den vier Schlafphasen entsprechen, einen wissenschaftlichen und emotionalen Zugang zu Traum und Zeitwahrnehmung. Die Absicht ist, einen dieser Zirkel aus den drei REM-Phasen und der Non-REM-Phase, zu reproduzieren. Ein Schlafzyklus spaltet sich in vier verschiedene Schlafphasen auf und dauert zwischen 90 und 120 Minuten:

  1. die Einschlafphase (circa fünf Prozent des Schlafzyklus)
  2. die Non-REM-Phase – die Leichtschlafphase (etwa 45 bis 55 Prozent des Zyklus
  3. die Tiefschlafphase (ungefähr 15 bis 20 Prozent)
  4. die REM-Phase oder auch Traumphase (rund 20 bis 25 Prozent)

Nach einem Zyklus wachen wir kurz auf, um direkt wieder einzuschlafen und die vier Schlafphasen erneut zu durchlaufen. Vier- bis fünfmal geschieht das in einer Nacht. Die REM- Phase wird nicht umsonst auch Traumphase genannt. Hier verarbeiten wir in Träumen unsere Erlebnisse des Tages und der nahen Vergangenheit. Während die erste REM-Phase noch kurz ist, werden die folgenden Traumphasen in der Nacht immer länger.

Traumzeit Probe
Foto: Tom Mesic

DIE BÜHNE – EIN SIMULATIONSRAUM

Um die Vorgänge während des Träumens zu verstehen, muss man sich ein Bild von den Vorgängen in unserer Psyche machen. Man kann sich diesen seelischen Apparat modellhaft wie eine Schachtel vorstellen, die zwei Öffnungen hat. Die eine Öffnung empfängt Wahrnehmungen, die andere Erinnerungen. Um diese Traumzeit-Situation bildhaft darzustellen, wurde von dem Künstler Aleksander Kaplun in Kooperation mit TANZ LINZ ein spezielles Bühnenkonzept entwickelt.

Der Bühnenraum ist so konzipiert, dass ein geschlossener Raum für Träume entsteht, in den das Publikum eintauchen kann. Es ist ein Simulationsraum, in dem alles passieren kann – dieser Raum ist alles andere als neutral, denn in sich stets veränderlich. Zusätzlich teilt sich dieser Raum in zwei Sphären: oben die Realität, unten der Traum. So können die Tänzer:innen mit dem Versuch, aus dem Traum auszubrechen, spielen; sei es die Flucht aus einem Albtraum oder auch das Begehren, in einen schönen Traum zurückzufinden.

Über die Bühne wird auch die Dualität des Konzepts vermittelt, des doppelten Bodens oder des doppelten Dachs, das Unbewusste und Bewusste. Die Kostüme hingegen, entworfen von Karin Waltenberger, sind inspiriert von Empfindungen, die beim Träumen entstehen. Materialität und Farbigkeit spielen mit unscharfen, nebelhaften und verschwommenen Assoziationen.

DIE MUSIK UND DIE TRAUMANALYSE

Eine wichtige Rolle spielt die Musik, hier von Aaron Breeze in Zusammenarbeit mit den Choreograf:innen entwickelt und komponiert. Die Musik ist elektronisch und changiert zwischen aufgenommenen und synthetisierten Klängen. Sie ist als Antwort auf Surrealismus und multidimensionale Träume ebenfalls vielschichtig, beginnend mit der Deltawelle, die mit dem Non-REM-Schlaf assoziiert wird. Aaron Breeze beschäftigte sich hier ebenfalls mit Freuds Techniken der Traumanalyse und benutzte diese Wahrnehmungsweise von Träumen als Inspiration. Das Ergebnis dieser Recherche ist Musik, die zwar vertraut klingt, jedoch verzerrt und verändert wurde. Die Klangwelt lehnt sich stark an die Genres Synthwave und Tango an und spielt letztlich mit dieser Gegenüberstellung und Disjunktion.

Mit Traumzeit entsteht ein immersives Erlebnis, das das Publikum einlädt, mit allen Sinnen in die Träume von TANZ LINZ einzutauchen. Bereits zu Beginn von Gerüchen verführt, dürfen sich die Zuschauenden voll auf das Bühnenraumgeschehen einlassen und das eigene Unbewusste erkunden – natürlich nur, soweit er:sie das möchte.

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