Es ist eine der bekanntesten Szenen der Kinogeschichte. Wer wissen möchte, welch große Wirkung eine besonders ausgeklügelte Schnitttechnik bei einem Film entfalten kann und wie dabei Musik und Bild zusammenspielen, oder wer lernen will, wie man ganz ohne Worte über fast zehn Minuten höchste Spannung entfaltet, der studiere ganz genau jenen Ausschnitt aus Alfred Hitchcocks Streifen Der Mann, der zu viel wusste, der während eines Konzerts in der Londoner Royal Albert Hall spielt. Die Situation ist folgende: Bei einer Aufführung der so genannten Storm Clouds Cantata soll ein anwesender Premierminister von einem Attentäter erschossen werden. Das Filmpublikum ahnt relativ früh, dass dies genau dann geschehen wird, wenn zum ersten Mal im Orchester ein Beckenschlag erklingt. Die Spannung steigt, je näher dieser Moment kommt. Und tatsächlich fällt der Schuss genau dann, wenn die Becken von dem braven Orchestermusiker mit lautem Getöse zusammengeschlagen werden. Allerdings wird der Ministerpräsident von der Kugel nur am Arm gestreift.
Was an dieser atemberaubenden Szene mit am meisten fasziniert, ist das Verhältnis von Musik und Aktion. So hört man nämlich den Schuss gar nicht, da er von dem Orchestergetöse übertönt wird. Das heißt nichts anderes, als dass ein brutaler Vorgang wie ein Attentat durch die Musik quasi ästhetisiert wird.
Wer Hitchcock kennt, weiß jedoch, dass dies nicht geschah, um derartige Brutalitäten zu verharmlosen. Denn vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall: Der Kontrast zwischen der Klassischen Musik und dem Mordvorgang soll vielmehr die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens verdeutlichen.
Das Verfahren, das Hitchcock in dieser Sequenz seines Films anwendet, scheint im Übrigen mancher Opernszene abgelauscht. Denn auch im Musiktheater ist es so, dass hier oftmals ein Schuss als Zielpunkt einer groß angelegten musikalischen Steigerung fungiert. Man denke etwa an Werke wie Albert Lortzings Der Wildschütz, Pjotr I. Tschaikowskis Eugen Onegin oder Giacomo Puccinis Tosca. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass, obwohl man von den Komponisten durch das beschriebene angewandte Verfahren eines großen Crescendos unmittelbar vor der bewussten Salve bestens auf selbige vorbereitet wird, viele Zuhörer:innen dann doch im Theater erschreckt zusammenzucken, wenn der Schuss fällt. Dies ist nicht allein der plötzlichen überdimensionierten Phonstärke zuzuschreiben, sondern auf einer anderen Ebene auch dem Schock über das plötzliche Eindringen von etwas Ungutem und Bösem in den – in der Regel – den Ohren schmeichelnden geregelten Ablauf der Musik.
Ein Werk, bei dem man das exemplarisch erfahren kann, ist Carl Maria von Webers Der Freischütz. Hier drängt sich gleich zwei Mal ein Schuss in das musikalische Geschehen, und zwar einmal direkt am Anfang und dann kurz vor Schluss der Oper. Mit ersterem setzt Weber dabei ebenso präzise wie lautstark das Thema dieses Werkes. Wird doch anhand der Problematik des Schießens die Frage behandelt, was passiert mit einem Jäger, wenn er auf einmal nicht mehr trifft? Wie weit darf er gehen, um dieses, seine Existenz gefährdende Defizit zu beheben? Ist es wirklich der richtige Weg, sich deshalb mit dem Bösen einzulassen, um magische, ihr Ziel nie verfehlende Kugeln zu gewinnen? Was sich wie eine romantische Gespenstererzählung ausnimmt, berührt trotzdem (oder gerade deswegen) tiefere Schichten des menschlichen Daseins. Steckt hinter solch einer Geschichte doch die generelle, beunruhigende Frage, was passiert mit mir, wenn ich feststellen muss, dass der von mir gewählte Lebensentwurf zum Scheitern verurteilt ist? Was wage ich dann alles, um das zu verhindern? Welche Grenzen überschreite ich dabei gegebenenfalls? Max, der Protagonist von Webers Freischütz geht dabei tatsächlich zu weit, wenn er sich mit dem Teufel einlässt, was beinahe zur totalen Katastrophe führt. Die beiden Schüsse, die vom Komponisten an musikalisch prominenten Stellen gefordert werden, sind dabei mehr als reine akustische Knalleffekte. Sie sind durch Mark und Bein fahrende akustische Chiffren für die Gefahren, die darin lauern, wenn ich die Lösung von Problemen, die eigentlich nur ich angehen kann, nicht selbst in die Hand nehme, sondern an Fremde delegiere. Möge diese Warnung, deren Dringlichkeit Weber durch das Aufeinandertreffen des Kulturklangs seiner Musik und dem „Unkulturklang“ der Waffe so eindrücklich unterstreicht, nicht ungehört verhallen.