Obwohl der Roman des isländischen Nobelpreisträger Halldór Laxness sehr heiter und leicht daherkommt und über eine absurde nordische Komik verfügt, werden in ihm doch sehr ernste Fragen verhandelt, die Lebens- und Glaubensformen betreffen. Was macht diesen Stoff zu einer Oper? Warum haben Sie ihn ausgewählt?
Hermann Schneider: Schon seiner Form nach besitzt der Roman ein großes dramatisches Potenzial. Es gibt viele dialogische Momente, in denen Laxness charmant und subversiv grundsätzliche Fragen nach Lebensentwürfen, Existenz, Entfremdung, Spiritualität und der Rolle der Metaphysik spielerisch auffächert. Er zeigt Menschen in Lebenskrisen und Wege, die sie für sich entdeckt haben. In einem liebevoll gezeichneten Volkstheater-Panorama aus skurrilen Gestalten, in dem die Natur ein beinahe alles bestimmender Faktor ist, zeichnet Laxness seine Zivilisationskritik am Ende der Moderne im 20. Jahrhundert.
Auch im 21. Jahrhundert sind wir immer wieder mit Irrationalem, nicht nur im spirituellen Bereich, sondern auch in der Auseinandersetzung mit der Natur konfrontiert. Deren Gewalt und Aura haben in Island zur Entwicklung einer stark spiritualistisch geprägten Mythologie geführt. Hier ist die Geisterwelt des „versteckten Volkes“, das Mystische auf eine faszinierende Art präsent und taucht Land und Leben in eine ganz eigenartige, rätselhafte Atmosphäre, die sich meines Erachtens am besten durch Musik repräsentieren lässt.
‚Unter dem Gletscher‘ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, Vebi, der sich im Auftrag des Bischofs von Reykjavík auf die Spuren von Sira Jon begibt, einem Pfarrer, der offenbar seinen Aufgaben nicht mehr nachkommt. Was erlebt dieser junge Mann?
Hermann Schneider: Im Grunde genommen erlebt er eine Art von Initiation. Früher hätte man von einem Entwicklungsroman gesprochen, heute sagt man, es ist eine Coming-Of-Age-Geschichte. Der junge Theologe namens Vebi erfährt dabei, dass alle die Wege, die er bislang für sicher und begehbar gehalten hatte, trügerisch sind, und dass sein Lebensentwurf als Akademiker, angesichts der Natur und deren Magie, aber auch angesichts einer ganz anderen Form von Frömmigkeit oder Spiritualität, die er kennenlernt, neu zu überdenken ist. Es geht in Unter dem Gletscher darum, seinen eigenen Lebensweg zu finden und sich dabei immer wieder neu zu hinterfragen und zu befragen. Die ganzen Klischees eines geordneten bürgerlichen Lebens oder einer geordneten Glaubensvorstellung oder auch von Lebensentwürfen, die scheinbar sicher und begründbar sind, zerbröseln angesichts des Erfahrenen vor Vebis Augen. Er erlebt auf der einen Seite eine große Desillusionierung, auf der anderen Seite aber auch eine ganz große Befreiung, einen Zugang zu einem neuen Leben.