Dass wir nicht allein sind…

Über die Aktualität von Halévys La Juive

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Es war der jüdische Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin gewesen, der in seinem posthum 1939 veröffentlichten Essay Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts davon schreibt, wie eine Kommerzialisierung aller Bereiche des Lebens und der Kunst die französische Hauptstadt damals mit einer beispiellosen Rasanz erfasste und von dort aus in den Rest der Welt ausstrahlte.

Was Benjamin – von einigen versteckten Anspielungen abgesehen – allerdings in seiner Schrift ausklammert, ist der Kosmos der Pariser Oper. Dabei manifestierte sich im 19. Jahrhundert gerade in diesem Haus die von Benjamin konstatierte, analysierte und kritisierte Verbindung von Kapitalisierung, Technisierung, Gigantomanie und Kunst. Denn man wollte in der Pariser Opéra das Publikum stets mit spektakuläreren Neuigkeiten und technischen Entwicklungen überraschen, um auch finanziell erfolgreich sein zu können. Daraus ergab sich ein Kreislauf, der zwangsläufig zu einer Kapitalisierung des Theaterbetriebs führen musste. Denn je größer der Aufwand an Ausstattung und Personal, mit dem die Zuschauer:innen und deren Geld gewonnen werden sollten, umso höher der finanzielle Einsatz, der hierfür betrieben werden musste.

Dabei machte sich die Opéra schnell die technischen Errungenschaften der Zeit zu eigen, etwa wenn in Giacomo Meyerbeers Robert le diable (Robert der Teufel) 1831 erstmals das Gaslicht als bestimmendes Beleuchtungsmittel zum Einsatz kam, oder wenn in Le Prophète (Der Prophet) desselben Komponisten 1849 auch die Elektrizität für Bühneneffekte so früh wie an keinem anderen Theater genutzt wurde. Die Rechnung, die Nerven der Opernbesucher:innen mit immer beeindruckenderen theatralen, technischen, musikalischen und tänzerischen Innovationen zu kitzeln und die Menschen dadurch ins Theater zu locken, ging (meistens) auch bestens auf.

Das große Paradoxon aber ist, dass mit die erfolgreichsten Werke, die in der Pariser Opéra im 19. Jahrhundert ihre Weltpremiere erlebten, inhaltlich das Publikum gleichzeitig auch extrem herausforderten. Denn die Meyerbeer-Opern Les Huguenots (Die Hugenotten – uraufgeführt 1836) und Le Prophète sowie Fromental Halévys La Juive (Die Jüdin) aus dem Jahr 1835 entfalteten auf der Bühne der Opéra ein weltgeschichtliches Panorama, gegen dessen Düsternis ein Werk wie Richard Wagners Götterdämmerung wie eine leichtgewichtige Boulevardkomödie wirkt. So thematisieren Les Huguenots das kollektive französische Trauma der sogenannten Bartholomäusnacht, in der 1572 Tausende Protestanten von Katholiken ermordet worden waren, während Le Prophète die in einen Gewaltrausch mündende Täuferbewegung in Westfalen 1530 zum Thema hat. Und La Juive seziert zwar im mittelalterlichen Gewand, aber dennoch mit gnadenloser Schärfe und hochemotionalem, tragischem Ausgang die Mechanismen, die ein sich immer stärker artikulierender Antisemitismus für die Menschen bedeutet.

Das Bemerkenswerte an diesen drei Opern ist aber nicht nur ihr Erfolg beim Publikum, obwohl sie ein zutiefst pessimistisches Weltbild transportieren, sondern auch, dass Halévy und Meyerbeer im Verein mit dem Dichter Eugène Scribe, der für die Libretti dieser Werke verantwortlich zeichnete, mit größter Empathie sich den von ihnen komponierten Geschichten widmeten. Sie benutzten den gewaltigen Apparat, den die Pariser Opéra an Personen und technischen Möglichkeiten bereitstellte, nicht für oberflächliche Effekte, sondern sie ordneten alle Gestaltungsmittel, von der Ausstattung über Kostüm, Tanz, Musik und Gesang, einer übergeordneten Botschaft unter. Und sie etablierten in ihren Werken eine dramaturgische Anlage, die in den entscheidenden Momenten der Handlung das Publikum bis heute extrem zu berühren vermag. Durch die dadurch ausgelösten Gefühle durchdringen die Zuhörer:innen die tragischen Schicksale der Protagonist:innen in viel höherem Maße. Und dieses Mitleiden mit lediglich fiktiven Charakteren hat gleichzeitig das Potenzial, sich durch die Totalität der verwendeten theatralen Mittel und vor allem durch die enorme emotionale Kraft der Musik zum Mitleid mit den Opfern jeglicher ungerechtfertigter Gewalt zu weiten.

Diese empathische Wirkungsmacht, die die Gattung Oper in den genannten Werken bis in die Gegenwart zu entfalten vermag, erlaubt es auch heute noch, Halévys La Juive in einer Zeit zur Aufführung zu bringen, in der durch den terroristischen Überfall der Hamas auf Israel und den sich daraus entwickelnden Krieg das Leben die Kunst quasi rechts überholt hat. Denn diese Oper, die genau um die Themen von antisemitisch motivierter Gewalt und die darauf folgende Vergeltung kreist, zeigt uns Heutigen, dass schon Generationen vor uns mit denselben Mechanismen konfrontiert waren, die uns immer noch bedrängen. Diese Einsicht mag zunächst frustrierend klingen und löst auch in keiner Weise die Probleme der Gegenwart. Dennoch vermittelt sie das Gefühl, dass wir nicht allein sind. Denn die Erkenntnis, dass Menschen schon in der Vergangenheit mit ähnlichen Fragestellungen konfrontiert waren, kann ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung für die Gestaltung einer besseren Zukunft fördern. Immerhin!

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