KINDER, SCHAFFT NEUES!

Mit einer Neuinszenierung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg begeht das Landestheater Linz das 10-jährige Jubiläum des Musiktheaters.

10JahreMusiktheaterPremierenfieberDieMeistersingerVonNürnberg

Ein Abend Mitte Februar, gleißendes Licht auf der großen Probebühne im Musiktheater. Zwölf männliche Sänger und eine Frau proben den Auftritt der Meister im ersten Akt. Nur wenige Minuten wird jene Szene dieses Mammut-Werkes des Bayreuther Meisters am Premierenabend ausmachen, heute beschäftigt sie die beeindruckende Besetzung einen ganzen Abend lang. Regisseur Paul-Georg Dittrich geht ins Detail.

Minutiös erklärt er die Grundsituation und weist jeden einzelnen der Solisten in seine Rolle ein, legt mit ihnen die unterschiedlichen Charaktere an und verdichtet in immer neuen Varianten die Dramaturgie der Szene, bevor es weitergehen kann. Im zweiten Akt ist ein überdimensionaler Flipper-Automat in Gestalt eines kindlich-pittoresken Nürnbergs markiert – Symbol und stilisierte Konkretisierung der fränkischen Dürerstadt –, die einen sehr direkten spielerischen Zugang ermöglicht. Eva und Walther von Stolzing verschwinden gerade hinter einer überdimensionalen Bratwurst vor biedermeierlichem Fachwerk.

Richard Wagner, unbestritten einer der prägendsten Künstler des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus, mit einem obsessiven Verhältnis zum Theater, „Genie und Scharlatan, Charmeur und Schlitzohr, Mythenschöpfer und Magier der Musik“, wie Biograf Walter Hansen schreibt, vermag es, bis in die Gegenwart die Gemüter zu erhitzen und zu faszinieren. Auch 140 Jahre nach seinem Tod schlägt er uns immer wieder in seinen Bann. Mit Lust und Furor befragen wir Jahr um Jahr seine Werke auf den Opernbühnen neu.

Zum diesjährigen Jubiläum des Linzer Musiktheaters kommt mit den Meistersingern von Nürnberg ein Werk zur Aufführung, das sich wie kein anderes mit der Frage nach dem Wesen von Kunst und Künstlertum in der Gesellschaft beschäftigt. Wagner, selbst ein Künstler, den man heute aus der Perspektive seiner Zeit zur absoluten „Avantgarde“ zählen würde – und nichts anderes will Nietzsche sagen, wenn er den Komponisten als „Unzeitgemäßen“ bezeichnet, fordert in Gestalt Walter von Stolzings das Nürnberger-Establishment heraus, seinen Blick zu weiten und zu verstehen, dass gerade das Neue, der Regelverstoß, die Kunst am Leben hält.

Die Meistersinger von Nürnberg
Martin Achrainer | Foto: Petra Moser

Da sein politisches Engagement für die Revolution von 1848/49 gescheitert war, hat Wagner als Kunst-Revolutionär die Welt der Oper umgekrempelt. Völlig neuartig war seine Harmonik, die – in ständiger Bewegung – es mitunter gar nicht mehr zulässt, ein festes Zentrum auszumachen, seine Leitmotivtechnik und seine emanzipatorische Behandlung des Orchesters, in dem er einzelne Farben zu einem Klangsog verschmilzt. Für die einen das Ende der Musik, für die anderen das Betreten einer musikalischen Welt, aus der noch die Gegenwart zu schöpfen weiß – faszinierend und beängstigend zugleich. Zu letzterem Standpunkt gelangen auch die Meister, die Stolzing mit dem Urteil „versungen“ aus dem Wettbewerb um die Hand Evas ausscheiden lassen. Nur ein einziger besitzt die Souveränität, eine Qualität im Vortrag des fremden Ritters zu erkennen, die über die stupide Forderung nach Regeltreue der Meisterriege hinausgeht. Klug erkennt der Schuster Hans Sachs die niederen Motive seiner Kollegen, die jegliches Herausragen aus einem gesunden Mittelmaß mit Angst quittieren: „Dem Vogel, der heut sang, dem war der Schnabel hold gewachsen: macht er den Meistern bang, gar wohl gefiel er doch Hans Sachsen“.

Wagner verspürte das Bedürfnis, ein heiteres Gegenstück zu seinem 1845 uraufgeführten Tannhäuser zu schaffen, und erinnerte sich dabei an eine Komödie Johann Ludwig Deinhardsteins über den historischen Nürnberger Schuster und Poeten des 16. Jahrhunderts Hans Sachs, die er im Alter von 15 Jahren in Dresden gesehen hatte. Während eines Kuraufenthalts im böhmischen Marienbad brachte er erste Skizzen zu Papier. Weitere 15 Jahre sollte es allerdings dauern, bis er diese wieder zur Hand nahm. Als er erfuhr, dass seine Geliebte Mathilde Wesendonck erneut von ihrem Ehemann schwanger war, transzendierte er diesen Schicksalsschlag und schuf sich mit dem Schuster und Meistersinger Hans Sachs ein Alter Ego, das aus noblen Gründen seiner Liebe zur Opernfigur Eva entsagt.

Diese, Tochter des Goldschmieds Veit Pogner, soll – so das Libretto – mit demjenigen Meistersinger verheiratet werden, der beim alljährlichen Wettbewerb den ersten Preis gewinnt. Als Alternative bleibt ihr nur die lebenslange Ehelosigkeit. Kurz vor dem Sängerwettstreit hat sie sich Hals über Kopf in den jungen Ritter Walther von Stolzing verliebt, der zwar Fantasie und Talent besitzt, aber mit den praktizierten Regeln des Meistergesangs nicht vertraut ist. Als er „versungen“ hat, will er mit Eva fliehen, was der Schuster zu verhindern weiß. Die Johannisnacht endet in einer Massenschlägerei, und dem klugen Beobachter Sachs gelingt es, den Wettbewerb so zu manipulieren, dass sich der Junggeselle und Anwärter auf die Hand Evas, Sixtus Beckmesser, der auch über die Einhaltung der Gesangsregeln wacht, vor aller Augen lächerlich macht und Stolzing den Sieg davonträgt.

Eine komische Oper zu schreiben, verliert Wagner beim Komponieren zunehmend aus den Augen und betitelt das fertige Werk, das in seiner Breitendimension jedes vernünftige und klassische Maß überschreitet und eine Liebesgeschichte geschickt mit einem kunstrevolutionären Diskurs verbindet, nunmehr einfach als „Oper in drei Akten“. Erhalten bleibt ihre Grundanlage, die mit der Figur Beckmessers und dem ungleichen Buffo-Paar David und Magdalene nur noch einige wenige typische Merkmale einer Opera buffa aufweist. Das Ergebnis ist ein unterhaltsames, auch sperriges und geistreiches Experiment, das musikalisch an historische Formen und Satztypen anknüpft. Die progressive, chromatische Harmonik, die der Komponist noch im unmittelbar vorausgehenden Tristan zu einer neuen Blüte getrieben hatte, wird hier wieder zugunsten der Diatonik zurückgedrängt. Durch Rückgriff auf bekannte musikalische Formen wie Monologe, Lieder, Ensemblesätze, Chöre, Choräle, Tänze und große Finali am Ende jeden Aktes verleiht Wagner seinen Meistersingern bewusst archaisierende Züge, ohne gleichzeitig auf musikalische Neuerungen wie z.B. die hochkomplexe Prügelfuge zu verzichten und das Leitmotivsystem zu einem Höhepunkt zu führen. Das Ergebnis ist ein schwer einzuordnendes, dennoch faszinierendes Stück Musiktheater, „eine der interessantesten musikalischen Abnormitäten“, dem der Autor Thomas Mann mit „enthusiastischer Ambivalenz“ begegnet. Wie bei anderen Meisterwerken der Oper gerieten auch die Meistersinger in die Mühlen der faszinierten und gleichzeitig überforderten Menschheit, erfuhren einen Substanzverlust durch zahlreiche, auch musikalische Eingriffe, verschmolzen mit einer Aufführungstradition, die die Figuren immer eindimensionaler und karikaturenhafter in ein butzenscheibenseliges Nürnberg einbettete und das Mittelalterliche zur wilhelminischen Stimmungskulisse mit Nationalcharakter erhob. Ein Werk, das solche Zuwendung erfährt, muss zweifelsohne faszinieren, Rätsel in sich bergen und Qualitäten besitzen, die die fortdauernde und lebendige Auseinandersetzung mit ihm nicht enden lassen.

Paul-Georg Dittrich | Foto: Petra Moser
Regisseur Paul-Georg Dittrich | Foto: Petra Moser

Am Landestheater Linz setzen Regisseur Paul-Georg Dittrich und Chefdirigent Markus Poschner am Pult des Bruckner Orchesters ihre in Bremen begonnene Zusammenarbeit fort. Dittrich, der zu Beginn dieser Saison auch Wagners Tannhäuser in Essen inszeniert hat, interessiert sich für das, was unter der immer wieder zur Interpretation herangezogenen Rezeptionsgeschichte des Werkes als nationalistisches musikalisches Denkmal, als Fest- und Aufmarschoper in nationalsozialistischer Zeit noch der Deutung harrt. Er betrachtet die Welt der jungen Eva, die als Trophäe von ihrem eigenen Vater im Wettbewerb eingesetzt wird, und folgt ihrer Initiative mit Hilfe von Stolzing aus der Enge ihres von Vaterfiguren dominierten Kosmos‘ zu fliehen. Er fragt nach dem Verhältnis von väterlicher Weltsicht und persönlicher Freiheit der jungen Frau. Für seine Linzer Deutung hat Dittrich sich ganz für die Perspektive Evas entschieden und erzählt deren Emanzipationsgeschichte als die einer Alice im Wunderland in einer männerdominierten, rückwärtsgewandten Gesellschaft. Der persönliche Befreiungskampf der jungen Frau wird dabei parallel geführt zu Wagners Kernherausforderung, der Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Avantgarde in der Kunst. Das Regieteam, ergänzt um den Videodesigner Robi Voigt, die Kostümbildnerin Anna Rudolph und den Faust- und diesjährigen Opus-Bühnenbild-Preisträger Sebastian Hannak, taucht dabei in eine bunte Spielzeugwelt ein und weitet den Blick über drei Akte wie bei einer Kamerafahrt. Von der Mikro- zur Makro-perspektive entsteht eine Welt, die der jungen Eva aus den Händen gleitet. Gemeinsam mit den Zuseher:innen entdeckt sie, dass nicht etwa, wie Wagner in seiner Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ propagiert, „die freie, künstlerische Genossenschaft des Volkes“, sondern der hohe Priester der Kunstreligion die Fäden in der Hand hält.

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