Fußball und Kultur

Von Vorurteilen zur Gesellschaftsanalyse

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Manche Vorurteile sind so hartnäckig wie Kaugummi auf Schuhsohlen. Sie sind praktisch, weil sie die Welt vereinfachen und – vielleicht noch wichtiger – eine Bewertung liefern. Vorurteile werten ab und werten gleichzeitig das auf, was sich über das Abgewertete erhebt. Ihre Hartnäckigkeit verdanken sie einer wirkmächtigen Dichotomie von „oben“ und „unten“.

Etwa zwischen ernster Kunst und Pop, Hochkultur und Volkskultur, anspruchsvoll und banal. Auf der einen Seite steht eine gesellschaftliche Elite, die sich – um es mit Pierre Bourdieu zu sagen – ihrem Habitus gemäß als „oben“ versteht und kulturelle Wertigkeit für sich beansprucht. Der Bildungsbürger liest Literatur und besucht das Theater. Er konsumiert Qualitätsmedien und meidet das Boulevardblatt. Begeistert er sich für Sport, dann für Golf, Tennis oder Schach. Auf der anderen Seite befindet sich hingegen der „Pöbel“, zu finden beim Karneval, auf Schlagerparaden, beim Kartenspielen und natürlich im Fußballstadion – der Kathedrale der Zeitverschwendung. Fußball war und ist Sache der breiten Masse und damit verdächtig. Der Fußball-Fan und Germanist Wendelin Schmidt-Dengler berichtet aus seiner Kindheit: „Ich lernte die Aufstellung von Austria Graz auswendig. Als ich sie meinem Vater aufsagte, meinte er, ich sollte mir eher die Personen in Goethes ‚Götz von Berlichingen‘ merken, was ich dann auch tat. So wurde ich Germanist und nicht Sportreporter.“

Elias Canetti: Die Masse als Inspirationsquelle

Gerade der Fußball zeigt jedoch, wie falsch solche Vorurteile sein können. Ein Blick in die Geistes- und Literaturgeschichte zeigt, dass es nicht nur große Fußballbegeisterte unter Künstler:innen und Intellektuellen gab und gibt, sondern dass der Fußball als Thema in die Weltliteratur einfloss und wegweisende Einblicke in die Gesellschaft bietet. So wurde etwa ein Fußballspiel im Wiener Bezirk Hütteldorf im Jahr 1927 zur Initialzündung eines Jahrhundertbuchs. Am 15. Juli saß ein gewisser Elias Canetti in seiner Wohnung: „Eine schwache Viertelstunde Weges von meinem Zimmer, auf der anderen Talseite in Hütteldorf drüben, lag der Sportplatz Rapid, wo Fußball-Kämpfe ausgetragen wurden.“ Und weiter: „Nun rührte ich mich nicht von der Stelle und hörte dem ganzen Match zu. Die Triumphrufe galten einem Tor, das geschossen wurde, und kamen von der siegreichen Seite. Es war auch, er tönte anders, ein Aufschrei der Enttäuschung zu vernehmen. Sehen konnte ich von meinem Fenster aus nichts, Bäume und Häuser lagen dazwischen, die Entfernung war zu groß, aber ich hörte die Masse und sie allein, als spiele sich alles in nächster Nähe von mir ab.“ Der Aufschrei der Masse wurde zum zentralen Thema von Masse und Macht, das ihn als sozialphilosophischen Denker berühmt machte und ein Schlüsselwerk des zwanzigsten Jahrhunderts wurde.

Das Derby
Julian Sigl & Daniel Klausner | Foto: Herwig Prammer

Horváth, Handke, Musil: Wenn Literatur den Ball aufnimmt

Auch Ödön von Horváth hat sich in einem seiner Sportmärchen der Anziehungskraft des Fußballs gewidmet. In der „Legende vom Fußballplatz“ wird von der Faszination berichtet, die der Sport auf ein krankes Kind ausübt und ihn sein Schicksal vergessen lässt – ein Motiv, das in Jugend ohne Gott wiederkehren sollte. Der Ballsport als Ablenkung, als säkularisierte Ersatzreligion. Fußball spiegelt auf vielschichtige Weise zentrale Themen seiner Zeit wider. Das Zusammenspiel von Fans, (Massen)Medien, Vereinen, Politik und Institutionen wie FIFA oder UEFA trägt dazu bei, obwohl letztere am liebsten die heißen politischen Themen meiden würden und sich explizit unpolitisch geben – was den Fußball nur noch politischer macht.

Robert Menasse und die Nation im Trikot

Ein schönes Beispiel, wie Fußball entsprechend politisch gelesen werden kann, liefert auch Robert Menasse. In seinem Buch Die Vertreibung aus der Hölle widmet er sich dem Nationalismus, der im Fußball eine Zuflucht findet. Politisch verliert der Nationalstaat in einer globalisierten Welt an Bedeutung. Dieser Verlust wird jedoch kompensiert durch eine energische Identifikation mit einem Verein oder einer Nationalmannschaft oder – wie in Menasses Roman – durch strikte Ablehnung.

Menasse beleuchtet diese Identifikationen anhand der WM 1974 in Deutschland, die die deutsche Mannschaft mit einem 2:1-Sieg über die Niederländer gewann. Die österreichischen Sympathien galten den Unterlegenen, häufig begründet durch die schöne Spielweise der Niederländer. Doch im Roman wird deutlich, dass die Aversion gegenüber den Deutschen und der eigene Minderwertigkeitskomplex – sichtbar in der Beziehung zur österreichischen Mannschaft – die größeren Triebfedern darstellten.

Das Derby
Gemma Vannuzzi | Foto: Herwig Prammer

Taktik, Technik, Tiefenanalyse: Fußball wird akademisch

Natürlich könnte die Verbindung zwischen Kunst und Sport beliebig fortgesetzt werden. Von der Gründung des FC Bayern München als Verein jüdischer Künstler und Intellektueller, die kein anderer Verein aufnehmen durfte oder wollte, über die Fußballbegeisterung von Friedrich Torberg oder Robert Musil bis zu Peter Handkes Arbeiten, der die Aufstellung des 1. FC Nürnberg zur Lyrik formte und seinen frühen Roman Die Angst des Tormanns beim Elfmeter benannte. Diese Autoren eint, dass sie sich selbst als Fußballfans begreifen und den Sport als soziales Phänomen für ihre Arbeit entdeckten. Doch in die Tiefe des Spiels drang keiner von ihnen ein. Für sie blieb Fußball ein Faszinosum vor allem abseits des Platzes. Dabei hätte die technische und taktische Entwicklung des Sports viel zu erzählen. Deshalb möchte ich abschließend einen weiteren Autor erwähnen, der es sich zur Lebensaufgabe machte, die Pfade zwischen taktischer Tiefenanalyse und Kritik zu beleuchten – Martin Blumenau.

Martin Blumenau: Zwischen Feuilleton, Fankurve und Politik

Martin Blumenau war Journalist und Publizist bei FM4 sowie Mitbegründer des Radiosenders. Neben seiner Musikexpertise wurde er für sein Fußballjournal geschätzt, das er über Jahre hinweg auf seinem Blog führte. Blumenau besaß enormes Fachwissen und die spitze Feder eines politischen Kommentators. Seine Journaltexte könnten am besten als „Fußball- Feuilleton“ eingeordnet werden. Er widmete sich der breiten Palette des Sports und beschrieb die taktischen Revolutionen, die seit den Nullerjahren stattfanden. Fußball wurde zunehmend sportwissenschaftlich und mit Hilfe digitaler Analyse-Tools erforscht. „Laptop-Trainer“ wurden geboren. Ein Spiel, bei dem 22 Spieler:innen aufeinandertreffen, ist eine komplexe Gemengelage. Bis heute wird unterschätzt, welchen Einfluss Positionierung, Höhe des Pressings oder etwa Laufwege auf den Ausgang haben. Die taktische Idee ist ebenso wichtig wie die Spieler:innen. Blumenau ging in seinen Texten darauf ein und bemerkte, dass in der Akademisierung des Fußballs gesellschaftliche Prozesse sichtbar werden, die weit ins Politische reichen. Der Sport entfernte sich mit zunehmender Komplexität nämlich immer weiter von jener Masse, die Elias Canetti beschrieb. Die Spieler:innen werden heute in Akademien ausgebildet, gehören also zu einer Elite. Geschichten von Bolzplatztalenten verschwinden und werden durch Scouts und Vereine ersetzt, die sich auf Jugendarbeit spezialisiert haben. Auch das Taktikvokabular wurde abstrakter und biete weniger emotionale Anbindung – eine Entwicklung, die nicht allen gefällt. Hier wird es also wieder politisch. Einer der letzten Texte, die Blumenau vor seinem Tod im Jahr 2021 schrieb, trug den Titel: „Warum Rapid, Austria, Sturm und die SPÖ dieselben Probleme haben.“ Im Kern ging es darum, dass Traditionsvereine und etablierte Parteien die jüngsten Entwicklungen verschlafen hatten und allergisch auf Neues reagierten. Wissenschaftsfeindlichkeit und Modernitätsverweigerung zeigen sich ihm zufolge im Fußball sowie in der Politik.

Lieber würde der populistische Erfolg gesucht, der langfristig in die Niederlage führt, weil andere es besser machen. Blumenau zeigt eindrücklich, welche Verbindungslinien zwischen Fußball, Kritik und Gesellschaft existieren und erinnert daran, dass das „Hohe“ und (vermeintlich) „Niedere“, komplexe „Sportkunst“ und gute Unterhaltung keine Widersprüche sein müssen – im Gegenteil. Einer seiner liebsten Sätze, die er in seinen Journalen oft zitierte, war folglich jener, der Albert Camus zugeschrieben wird und Mut machen soll, sich dem Phänomen Fußball auch im Theater zu nähern: „Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Theater und dem Fußball.“

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