Kometen und Schicksale

Zur Premiere des Musicals Natascha, Pierre und der große Komet von 1812.

PremierenfieberKomet

Der Stern von Bethlehem, der den drei Weisen den Weg aus dem Morgenland zur Wiege des Jesuskinds gewiesen haben soll, ist wohl das bekannteste Himmelsphänomen, das mit einem irdischen Ereignis verknüpft gewesen sein soll. „Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihm zu huldigen“, erklären sie laut Matthäus ihre unerwartete Ankunft in Bethlehem, einem unscheinbaren Vorort der Hauptstadt Jerusalem. Der Stern sei vor ihnen hergezogen und dann über dem „Ort, wo das Kind war“, stehengeblieben.

DER STERN VON BETHLEHEM

Seit der Spätantike stellen Bibelexegetikerinnen, Astronomen und andere Expert:innen Theorien darüber auf, um welche Art von Himmelserscheinung es sich beim Stern von Bethlehem gehandelt haben mag – meist mit dem Ziel, das Geburtsjahr Jesu zu bestimmen. Neben einer Nova und auffälligen Konjunktionen mehrerer Planeten ist der heißeste Kandidat dafür ein Komet. Infrage kommt z. B. der Halley’sche Komet, der alle 75 Jahre in Erdnähe erscheint (zuletzt 1986, das nächste Mal 2061). Um den Jahreswechsel 12/11 vor unserer Zeitrechnung stand der berühmteste Schweifstern von allen wohl unübersehbar am (noch nicht durch Lichtverschmutzung weitgehend unsichtbaren) Sternenhimmel.

KOMETEN ALS VORBOTEN AUSSER-GEWÖHNLICHER EREIGNISSE

Weil sich gut sichtbare, helle Kometen so selten in Erdnähe herumtreiben, liegt es nahe, sie in eine kausale Verbindung mit außergewöhnlichen irdischen Vorkommnissen zu bringen, seien es Naturkatastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überflutungen, Stürme) oder eben historische Ereignisse (Kriege, politische Umwälzungen, Geburt oder Tod berühmter Persönlichkeiten). Mögen Physiker:innen noch so verbissen insistieren, ein Einfluss kleiner Himmelskörper (geschweige denn spezieller Konstellationen) auf irdische Körper sei aufgrund der verschwindend kleinen Wechselwirkungen vollkommen undenkbar – auch in modernen Zeiten lässt sich ein Großteil der Menschheit nicht von der Vorstellung abbringen, es gäbe diese Zusammenhänge.

DER GROSSE KOMET VON 1811 (ODER 1812)

So war es natürlich auch beim Großen Kometen von 1811 (der von Tolstoi für Krieg und Frieden aus dramaturgischen Gründen ins Jahr 1812 verlegt wurde und es auf diesem Umweg in den Titel unseres neuen Musicals gebracht hat). So sah sich ein unbekannter Autor 1811 sogar bemüßigt, eine Kurze Belehrung über die Cometen, veranlaßt durch den Cometen des Jahres 1811 zu verfassen, die beim Buchbinder Hüttenrauch in Hohenstein bei Zwickau erschienen ist.

„Die Cometen haben von jeher Veranlassung zum Aberglauben gegeben, und unter derjenigen Classe von Leuten, welche, wegen ihrer Erziehung und ihres mangelhaften Unterrichts, von diesen großen Weltkörpern keinen hinreichenden Begriff haben konnten, stets große Furcht erregt. Bisweilen haben auch große Naturbegebenheiten, oder auch wohl politische Ereignisse, welche letztere zufällig nahe oder fern auf sie erfolgten, und gewiß auch ohne ihre Erscheinung erfolgt seyn würden, diese Furcht genährt und fortgepflanzt.“

RUSSLAND ANFANG DES 19. JAHRHUNDERTS

Je unruhiger die Zeiten, desto eher flüchten sich die Menschen in scheinbar einfache, dafür absurd un- oder sogar antiwissenschaftliche Erklärungsmodelle, das wird uns ja aktuell im Zusammenhang mit der Pandemie, dem Überfall auf die Ukraine, der Energiekrise und der globalen Erhitzung überdeutlich vor Augen geführt. Auch Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah sich vielen Krisen gegenüber. Unter der Regentschaft Alexanders I. hatte sich ein zunächst durch Bewunderung geprägtes Verhältnis zu Napoleon (Frieden von Tilsit 1807) so verschlechtert, dass es 1812 zum Krieg kam. Das mächtige französische Heer geriet nach Anfangserfolgen (bis hin zur Eroberung Moskaus) vor allem durch den harten Winter in die Defensive und wurde schließlich fast vollständig vernichtet. Die politischen und militärischen Ereignisse zwischen 1805 und 1812 analysiert Tolstoi in Krieg und Frieden ausführlich und verquickt sie mit der „Mikrogeschichte“ mehrerer adeliger Familien. Das Musical basiert im Wesentlichen auf einer etwa 100-seitigen Episode des Romans.

NATASCHA, PIERRE UND DER GROSSE KOMET

Die junge Natascha ist mit Andrej verlobt, der sich allerdings im Krieg gegen Napoleon befindet. In Moskau verliebt sie sich in Anatol, einen verantwortungslosen, aber charismatischen Mann, der sie gewissenlos verführt. Pierre, ein Freund von Nataschas Familie, wird beauftragt, den Skandal zu vertuschen. Das gelingt ihm halbwegs, er muss sich aber eingestehen, dass er selbst seit Langem in Natascha verliebt ist. Er zieht sich von ihr zurück, um nicht alles noch komplizierter zu machen. In dieser Situation tritt er auf die Straße und erblickt den Großen Kometen – im Musical ist es die letzte Szene, im Roman findet sich der Abschnitt ziemlich genau in der Mitte des 2000-seitigen Werks:

„Es war frostig und klar. Über den schmutzigen, halbdunklen Straßen, über den schwarzen Dächern stand ein dunkler Sternenhimmel. Pierre blickte nur zum Himmel, ohne das verletzend Niedrige alles Irdischen im Vergleich zu der Höhe zu empfinden, auf der sich seine Seele befand. Beim Einbiegen auf den Arbatplatz öffnete sich seinen Blicken der riesige Raum des dunklen Sternenhimmels. Beinahe in der Mitte dieses Himmels, über dem Pretschistenski-Boulevard, stand, von allen Seiten umgeben, überschüttet von Sternen, jedoch von allen unterschieden durch seine Nähe zur Erde, durch sein weißes Licht und den langen, nach oben gerichteten Schweif, der gewaltige helle Komet des Jahres 1812, derselbe Komet, von dem es hieß, er prophezeie alle nur möglichen Schrecken und das Ende der Welt. Doch in Pierre weckte dieser leuchtende Stern mit dem langen strahlenden Schweif keinerlei Schreckensgefühle. Im Gegenteil, Pierre blickte freudig und mit tränenfeuchten Augen auf diesen leuchtenden Stern, der scheinbar mit unsagbarer Geschwindigkeit auf einer Parabollinie unermessliche Räume durchflogen hatte, um schlagartig, wie ein Pfeil sich in die Erde bohrt, hier an einer von ihm gewählten Stelle am schwarzen Himmel hängenzubleiben, energisch den Schweif aufzurichten, zu leuchten und mit seinem weißen Licht inmitten der zahllosen anderen funkelnden Sterne zu spielen. Pierre schien dieser Stern vollkommen dem zu entsprechen, was in seiner zu neuem Leben erblühten, weich gestimmten und ermutigten Seele war.“

Dave Malloy, der Autor des Musicals, beschreibt, wie er diesen Abschnitt liest, so:

„Pierre sieht den Kometen ungefähr in der Mitte von Krieg und Frieden, es ist kein Ende, sondern ein neuer Anfang. Seine Seele erblüht und wächst, und sein Leben wandelt sich wieder und wieder, es wird wilder, schrecklicher, schöner, tiefgründiger, als er sich je vorgestellt hatte.“

Wer erleben möchte, wie Natascha, Pierre und die anderen wunderbaren Tolstoi’schen Figuren durch einen wilden, schrecklichen, schönen und tiefgründigen Abend geleitet werden, den laden wir ins Musiktheater ein. Denn den gibt es nur in Linz: Natascha, Pierre und der Große Komet von 1812 von Dave Malloy, inszeniert von Musicalchef Matthias Davids (zuletzt Fanny und Alexander und Anastasia), ausgestattet von Andrew D. Edwards (Priscilla und Anastasia), choreografiert von Kim Duddy (The Wiz und Anastasia), in der Musikalischen Leitung von Tom Bitterlich mit dem Linzer Musicalensemble, Mitgliedern von TANZ LINZ und neun sogenannten „Roving Musicians“ („umherstreifenden Musiker:innen), die die Musik dahin bringen, wo sie gebraucht wird!

NATASCHA TODD MACHT KARRIERE UNTER ANLEITUNG VON HERRN DE SADE

Die WM der überlangen Stücktitel

Geben Sie es zu! Als Sie hörten, dass das neue Musiktheater-Musical den Titel Natascha, Pierre und der Große Komet von 1812 trägt, dachten Sie: Geht’s noch? Hätten es ein paar weniger als 45 Zeichen nicht auch getan? Das Musical basiert immerhin auf nur etwa 100 der 2000 Seiten von Tolstois Krieg und Frieden (das trotz seiner epischen Breite mit einem Titel von nur 17 Zeichen auskommt).

Die Antwort lautet: Nein! Seien Sie froh, dass die anderen Hauptfiguren nicht auch noch im Titel vorkommen, dann hätten Sie an der Theaterkassa sagen müssen: „Bitte zwei Tickets im Parterre für Natascha, Pierre, Anatol, Andrej, Hélène, Sonja, Marja, Dolochow, Mascha, Bolkonski, Balaga (tief Luft holen!) und der Große Komet von 1812, bitte!“ (120 Zeichen).

Musicalchef Matthias Davids hat übrigens schon Musicals mit längeren Titeln inszeniert. Stephen Sondheims A Funny Thing Happened on the Way to the Forum (46) zählt vielleicht nicht, denn das hieß in Linz Die spinnen, die Römer! (23). In der Volksoper jedoch lief seine Produktion von Wie man Karriere macht, ohne sich anzustrengen (ebenfalls 46), das im Deutschen sogar noch zwei Zeichen gegenüber dem Original How To Succeed in Business Without Really Trying einspart. Ebenfalls in der Volksoper lief Sweeney Todd, der teuflische Barbier aus der Fleet Street, ein weiteres Stück von Sondheim, das mit 57 Zeichen den Vogel abschießt.

Mit Peter Weiss’ Schauspiel Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade können unsere Musicals schon mal gar nicht mithalten. Marat/Sade, so der Kosename in Theaterkreisen, hält mit 144 Zeichen vermutlich den Weltrekord. Oder kennt jemand einen ernsthaften Konkurrenten?

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