Das Wort Fassung steht hier abkürzend für die „Strichfassung“ eines Theaterstücks, die benötigt wird, damit dies von den Buchseiten hinauf auf die Bühne steigen kann. Nicht alle Fassungen sind reine Strichfassungen – also gekürzte Textversionen –, oft enthalten Fassungen auch Montagen innerhalb des Originaltexts oder sind sogar Montagen aus Stück- und Fremdtexten.
Angefertigt werden diese Fassungen oft von den Dramaturg:innen, genauso oft stammen sie von den Regisseur:innen, meistens sind sie Kooperationen zwischen beiden; die Dramaturg:innen sind aber auf jeden Fall die, die sich schließlich um die Lesbarkeit und um das Aussehen der Fassung kümmern müssen (also Tippfehler eliminieren und ein schönes Lay Out machen).
Wie genau die Regisseur:in und die Dramaturg:in an der Fassung zusammenarbeiten, gehört zu den Mysterien des Theaters. Oder einfacher: Das ist bei jedem Team aus Regie und Dramaturgie anders (und füllt locker drei eigene Blog-Folgen). Heute nur so viel dazu: Es ist eigentlich unvorstellbar, wie Generationen von Theaterleuten das vor Erfindung digitaler Textverarbeitung und des Transportmittels der E-Mail angestellt haben. Hin und wieder fallen einem in Dramaturgie-Bibliotheken alte, mit Radiergummi und Bleistift bearbeitete Stückabdrucke in die Hand, bei denen die Fassung einfach in das Originaltextbuch hineingemalt wurde (eine Möglichkeit), seltener stößt man noch auf Exemplare abgetippter und hektografierter Fassungen. Abtippen müssen die Dramaturg:innen zwar auch heute noch so manches, wenn man aber denkt, dass die Beschrifter:innen der für das Hektografieren benötigten Matrizen sich dabei nicht vertippen durften, weil eine Korrektur praktisch unmöglich war – da läuft es mir noch heute kalt den Rücken runter.
Doch zum Wesentlichen: Warum müssen Stücke überhaupt gekürzt werden? Warum spielen die nicht die ganzen Stücke („einen ganzen Schiller“)? Steckt nicht in den unberufenen Kürzungen bereits der ganze Wurm des Regietheaters? Jein. Erstens: Schon die alten Klassiker haben gekürzt. (Beispiel Shakespeare, Beispiel Macbeth: Das ist das einzige Shakespeare-Stück, das nur in Form eines Rollenbuches überlebt hat. Es ist halb so lang wie alle anderen Shakespeare-Stücke, darum geht man davon aus, dass Shakespeare auch die anderen Stücke für die Bühne etwa um die Hälfte kürzte.) Zweitens: Die haben schneller gesprochen. (Im Ernst.) Und zwar nicht, weil die Schauspieler:innen schneller sprechen konnten (bei gleichbleibend guter Artikulation, versteht sich, – könnten sie aber noch immer), sondern weil das Publikum gewohnt war, mehr – und nebenbei bemerkt: verschraubtere – Sprachbilder bei hohem Tempo zu verarbeiten. Heute leben wir in einem visuellen Zeitalter, das heißt Geschichten werden in Bildern erzählt und nicht in erster Linie durch Dialog. Wenn da nebenbei auch noch der ganze Text von Wallensteins Lager untergebracht werden muss, dann wird die Zeit schon knapp. (Und – alte Schauspielerweisheit: Bild schlägt Text – so lang da irgendjemand auf der Bühne rumturnt, braucht man mit dem Reden gar nicht anzufangen. Was bedeutet, dass das bildhafte Erzählen, das wir heute auch im Theater erwarten, nicht einfach „über den Text gelegt“ werden kann. Sondern: Entweder kann jemand reden oder es passiert was.)
Auch würde das Sprechtempo, das nötig wäre, einen halben Shakespeare in zwei Stunden abzuspulen (denn wir wissen, dass das Globe-Theatre nur zwei Stunden für eine normale Vorstellung gebraucht hat), ein solches Sprechtempo also bei einer großen Menge Text während eines ganzen Stückes widerspräche sehr wahrscheinlich unseren durch Film und Fernsehen geprägten Erwartungen an psycho-realistisches Spiel. Damit hätten wir schon zwei Motive, warum im Theater Text gestrichen wird: Dauer und Sprechgestus. Hier kommt das Dritte:
(Es folgt eine Replik Ferdinand von Walters aus Kabale und Liebe von Friedrich Schiller, 4. Akt, 3. Szene, zu Hofmarschall von Kalb):
„Du, Bursche? Was, du? Der Nothnagel zu sein, wo die Menschen sich rar machen? In einem Augenblick siebenmal kurz und siebenmal lang zu werden, wie der Schmetterling an der Nadel? Ein Register zu führen über die Stuhlgänge deines Herrn und der Miethgaul seines Witzes zu sein? Eben so gut, ich führe dich, wie irgend ein seltenes Murmelthier mit mir. Wie ein zahmer Affe sollst du zum Geheul der Verdammten tanzen, apportieren und aufwarten und mit deinen höfischen Künsten die ewige Verzweiflung belustigen.“
Ein wunderbarer Text, zugegeben. Und aus dem Zusammenhang gerissen. Zugegeben. Aber sogar mit Zusammenhang kann ein moderner Zuhörer hier ohne die Erläuterungen leicht nur die Hälfte verstehen. Klar, man versteht so die Idee, auch Ferdinands Gefühlszustand, aber: „Wo die Menschen sich rar machen?“ „Schmetterling an der Nadel?“ Das kann nicht mehr jede:r ohne weiteres dechiffrieren – wer es kann, wird eher älter sein als jünger – und hat einen höheren Bildungsabschluss. Und: Einen ganzen Abend lang halten Wenige das durch.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin nicht dagegen, dass man solche Texte – auf die Kraft der Sprache bauend – noch immer vollständig auf die Bühne bringt. Aber ein Hauptgrund, dass das heute kaum mehr gemacht wird, ist, dass diese Klassiker auch und nicht zuletzt einem jüngeren Publikum nähergebracht werden sollen. Darum werden sie – zur leichteren Verständlichkeit – verschlankt.
Diese Anhäufung von Rücksichtnahmen auf Dauer, Spielstil und Verständlichkeit ist es, die die Arbeit an Klassiker-Strichfassungen am stärksten prägt. Ein Viertes kommt allerdings noch hinzu:
Bleiben wir noch einen Augenblick bei Kabale und Liebe (1. Akt, 4. Szene, wieder Ferdinand von Walter, diesmal zu seiner geliebten Luise):
„Was ist das? (Befremdet.) Mädchen! Höre! wie kommst du auf das? – Du bist meine Luise. Wer sagt dir, dass du noch etwas sein solltest?“
Wenn wir das heute hören, kommen wir nicht umhin, festzustellen, wie überaus possessiv Ferdinands Haltung zu Luise von Beginn des Stücks an ist. Es macht ihn ziemlich unsympathisch. Und: es macht ihn für uns Heutige unsympathischer als er es vermutlich für Schillers Zeitgenossen war. Die fanden es vielleicht normal oder sogar voll in Ordnung, wenn der jugendliche Held in einem Rührstück derart zu seiner Geliebten spricht. Und wir Heutige bräuchten nicht drei Stunden und eine Staatsverschwörung, um zu verstehen, warum so jemand seine Geliebte aus Eifersucht am Ende umbringt. Entweder kann man nun anfangen, an der (psychologisch gesehen) von Schiller gar nicht unplausibel dargestellten Figur des jungen Helden rumzudoktern – so dass sie etwas sympathischer wird, mehr Fallhöhe bekommt, und das Stück mehr Spannung – oder man lässt das, wie es ist, wird das Stück aber dann insgesamt mehr kürzen, weil dann nicht genügend Spannungsbogen bleibt, dem Trauerspiel so lange zuzusehen.
Das heißt, wenn wir uns überhaupt entscheiden, ein Stück über Femizid aus Eifersucht und Ehrendünkel durch einen hochprivilegierten jungen Mann an seiner Freundin aufzuführen und nicht stattdessen einfach etwas anderes oder eine vollständige Umdichtung zu bringen – stoßen wir beim Streichen schließlich an dieselben inhaltlichen Fragen, die auch jene Kritiker:innen stellen, die nicht ohne Berechtigung verlangen, derartige Klassiker zukünftig schlicht zu meiden.
All diese Fragen haben stark mit dem Regiekonzept zu tun, wenn man nicht Fassung und Regiekonzept ohnehin für einen Komplex halten will. Und dabei sind wir heute nicht einmal über die Arbeit an den Klassikern hinausgekommen. Die sind aber nicht die einzige Art Dramenliteratur, die für die Bühne bearbeitet und in Fassung gebracht wird. Wir müssen also nächste Woche noch einmal darauf zurückkommen.