Außer dass der geständige Täter ein Schauspieler ist, hat der Fall mit dem Theater zunächst nichts zu tun. In seinen Auswirkungen allerdings stürzt er auch Theater und Filmunternehmen in die Krise, weil niemand einen Menschen auf der Bühne oder Leinwand sehen will, der abscheuliche Taten begeht. Die Feststellung wirkt lapidar, und alle Erstreaktionen auf den Fall schienen diese Ansicht zu bestätigen. Da der Skandal nun ein paar Tage alt ist, stellen wir fest, dass der Zusammenhang („Sollen Aufführungen oder Filme mit dem straffällig Gewordenen aus dem Programm genommen werden?“) doch nicht unumstritten ist. Der große Film, in dem der Täter gerade noch zu sehen war, verschwindet aus den Lichtspielhäusern, währenddessen sprechen sich herausragende Stellvertreter:innen der Kulturszene gegen diesen Fall von „Cancel Culture“ aus. Das Burgtheater hat den Schauspieler aus allen Vorstellungen herausgenommen, andererseits zeigt sich, dass er dort nach Bekanntwerden der Vorwürfe bis zur Anklageerhebung – für eineinhalb Jahre – weiterhin in Hauptrollen besetzt war. Das Theater sagt dazu, dass das Arbeitsrecht die Kündigung des Schauspielers wegen bloßen Lautwerdens von Vorwürfen nicht zugelassen hätte, dass eine solche auch nicht angemessen schien. Aber selbst wenn es stimmt, dass die schon vor der Anklageerhebung zunehmenden Kenntnisse über den Fall (und das Geständnis des Beschuldigten) nicht bis ins Theater dringen konnten, fällt doch auf, dass der Schauspieler unter 75 weiteren Ensemblemitgliedern nicht etwa die mittleren oder kleinen Rollen spielte, sondern Hauptrollen – was wiederum Anlass zur Vermutung gibt, dass hier nicht ein Rechtsgutachten ausschlaggebend war, sondern eine andere Einschätzung zu der oben gestellten Frage (nämlich, noch einmal: „Soll ein krimineller Schauspieler in Hauptrollen auf der Bühne stehen?“).
Warum aber soll ein kriminell gewordener Schauspieler eigentlich nicht mehr auf der Bühne stehen? Zunächst erscheint die Antwort einfach: Weil ein Schauspieler kein hohles Instrument ist, sondern Künstler, Koautor des theatralischen Ereignisses und eine öffentliche Person. Er steht, insbesondere wenn er eine Berühmtheit ist, nicht nur als Figur und Rolle auf der Bühne, sondern als er selbst. Seine Persönlichkeit kommt in seinem Spiel und seiner Deutung der Geschichte, welche er erzählt, zum Ausdruck. Auch wird, was das Publikum über den Schauspieler weiß – dessen eigene Geschichte –, Teil der Erzählung auf der Bühne. Man könnte von einer Zusammenführung verschiedener Narrative sprechen, wie sie für das theatralische Erzählen (ob nun im Theater, Fernsehen oder Film) bezeichnend ist. Naturgemäß bilden sich Narrative nur aus solchen Informationen, die dem Publikum bekannt sind, und das Burgtheater scheint hier spekuliert zu haben, dass die Vorwürfe gegen besagten Schauspieler einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt würden. Und es traf keine Vorkehrungen für den Tag, an dem das Gegenteil eintrat.
Mit der Veröffentlichung des Schuldeingeständnisses ist der Fall für das Theater aber auch beinah erledigt. Ein Schauspieler, der durch sein Handeln außerhalb der Bühne öffentlichen Abscheu erregt, wird sich schon aus Selbstschutz nicht in eigener Person mehr vor sein Publikum stellen. Etwas anders, und vor allem: komplizierter sieht die Sache für den Film aus. Hier betrachtet man das Spiel des Schauspielers ja in dessen Abwesenheit. Darum ist der Schauspieler auch selbst nicht durch das Publikum gefährdet. Spielt deshalb alles, was wir wissen über ihn, seine eigene Persönlichkeit in einem Film weniger eine Rolle als auf dem Theater? Wäre der Film demnach weniger ein kollektives Kunstwerk (mit multipler Autor:innenschaft) als das Theater?
Natürlich nicht. Doch die Frage, ob ein Film, in den so viele Künstler:innen ihre Zeit und Energie gesteckt haben, verschwinden muss, weil ein einzelner Darsteller darin missliebig geworden ist, stellt sich schon deshalb, weil die schiere Möglichkeit, den Film trotzdem zu zeigen, rein praktisch besteht. Und weil nebenbei die Möglichkeit der nachträglichen Umbesetzung – anders als im Theater – viel weiter entfernt ist. (Im berühmten Falle Kevin Spaceys in dem Film All the Money in the World, 2017, hat es aber sogar das gegeben.) Bevor wir in die hitzige Debatte um die „Cancel Culture“ einbiegen, kommen wir auf das Thema der sich miteinander vereinigenden Narrative zurück:
Dabei fallen zwei Fragen ins Gewicht. 1.) Harmonieren die Erzählungen, die das Kunstwerk durch die Mitwirkung aller Beteiligten zusammenführt, in einer Weise miteinander, dass das Publikum das Werk immer noch genießen und in seiner intendierten Absicht lesen kann? – Das kann zum Beispiel heißen: Gestehen wir einem Schauspieler aufgrund dessen, was wir wissen über ihn, zu, relevante Aussagen zum Thema des Kunstwerks zu machen? (Wenn zum Beispiel ein notorischer Rassist in einem Film ein Opfer des Nationalsozialismus spielen würde.) Und wenn durch die Zusammenführung Spannungen zwischen eben diesen Narrativen auftreten, stellt sich Frage 2.) Wie sehr fallen die verschiedenen, miteinander im Widerspruch stehenden Narrative für die Betrachter:innen ins Gewicht?
Man könnte zu dem Schluss kommen, dass ein Film, in dem ein öffentlich skandalisierter Schauspieler in einer Hauptrolle mitspielt, nicht erst durch die „Cancel Culture“ verschwindet, sondern dass er hinter dem neuen und gewichtigeren Narrativ verschwindet, dass durch den Skandal um diesen Darsteller entstanden ist. Auf Deutsch: Das Publikum, das den Skandal mitbekommen hat, kann den Film gar nicht mehr sehen und verstehen, wie er ursprünglich gemeint war, sondern sieht einen ganz anderen Film, weil die Erzählungen, die sich an ihn knüpfen, sich so stark verändert haben.