Einer solchen Handlung vorzuwerfen, dass sie jeglichen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit Hohn spricht, ist eine leichte Übung. Aber wer das tut, verwechselt gleichzeitig auch Ursache und Wirkung. Denn die Oper ist nicht deshalb unrealistisch, weil sie krude Geschichten erzählt; sondern ihr Realismus liegt genau darin begründet, dass sie Inhalte vermittelt, die der Sphäre der Rationalität enthoben sind. Denn verläuft das Leben wirklich immer nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit? Kann nicht jede:r aus der eigenen Biografie von Zufällen berichten, die so bizarr sind, dass sich diese niemand ausdenken kann? Zeigen nicht gerade die weltpolitischen Ereignisse der letzten Monate, dass dem Weltenlauf kaum mit Vernunft beizukommen ist? Wie ist es sonst zu erklären, dass ein einziges im Suezkanal querliegendes Schiff einen Großteil der globalen Lieferketten ausbremst? Dass ein unbekanntes Virus das Leben weltweit lahmlegt? Oder dass in einer angeblich aufgeklärten Zeit in einem angeblich aufgeklärten Europa ein Angriffskrieg gestartet wird? Womit man ganz nah an Verdis La forza del destino angekommen wäre. Denn auch in diesem Werk geht es um einen Krieg. Im Original handelt es sich um den Österreichischen Erbfolgekrieg, der in den Jahren 1740 bis 1748 große Teile Europas verunsicherte. Doch Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Antonio Ghislanzoni halten sich mit konkreten Anspielungen auf dieses historische Ereignis auffallend zurück. So finden sich im Textbuch nur ganz vereinzelte Hinweise, denen man erst forschend nachspüren muss, um auf besagten Erbfolgekrieg zu kommen. Das heißt aber nicht mehr und nicht weniger, dass es gar nicht um ein konkretes Ereignis geht, sondern um den Krieg an sich. Und auch hier kann man fragen, ob die oben geschilderten Vorkommnisse um Leonora, Carlo, Alvaro und den Marchese einem so unwahrscheinlich vorkommen, weil sie durch den Krieg mitverursacht und beschleunigt werden; oder ob die bizarren Zufälle, die diese Familiengeschichte bestimmen, nicht ein Zeichen dafür sind, dass eine Welt, in der Krieg herrscht, nur als absurd bezeichnet werden kann? Insofern ist Verdis Blick auf den Lauf der Dinge ein eher kühl-realistischer denn ein wildwuchernder theatraler.