Kein richtiges Leben im falschen.

Über Biedermänner und Brandstifter.

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Mit Biedermann und die Brandstifter, seinem „Lehrstück ohne Lehre“, schuf Max Frisch 1957/1958 ein Modell, das durch Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit besticht. Ob nun blind aus Feigheit, Trägheit, Dummheit oder tatenlos aus falsch verstandener Toleranz und Höflichkeit – die Biedermänner spielen durch Abducken und Wegschauen eine ebenso fatale Rolle in den Tragödien der Geschichte wie die gesellschaftlichen Brandstifter.

Das 19. Jahrhundert ist, folgt man Herfried Münker, das Jahrhundert des Umbruchs. Die Monarchien geraten in Krisen, nationale sowie demokratische Bewegungen erstarken und der Kapitalismus tritt seinen Siegeszug an. Und all dies hängt entscheidend mit dem Aufstieg einer neuen Klasse zusammen – dem Bürgertum. Es verwundert daher nicht, dass jene komplexen Zusammenhänge die Menschen herausforderten und unterschiedliche Schlüsse hervorbrachten. Münker zeigt dies exemplarisch an Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Beide analysierten die Umstände ihrer Zeit, beide wagten Prognosen bzw. wirkten auf diese hin und beide waren davon überzeugt, dass die „philiströse Kultur“ (Marx) des erstarkenden Bürgertums kein gutes Ende nehmen wird – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Wie aktuell und langanhaltend jene Kontroversen ausfallen würden, konnten die beiden freilich nicht ahnen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später erscheint jedenfalls die Brisanz der Auseinandersetzung in Biedermann und die Brandstifter – einem der berühmtesten Stücke von Max Frisch, welches die dunklen Vorahnungen von Marx und Nietzsche zu bestätigten scheint.

Biedermann und die Brandstifter

Friedrich Nietzsche, einige Jahre jünger als Marx, kritisiert das Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit seine biedere Zurückgezogenheit. Es reicht nicht zur aristokratischen Größe und deshalb senkt es das eigene Anforderungsprofil nach unten ab. Dies führe zur „Selbstverzwergung“. Gerne nennt Nietzsche diesen Typus „Erdenfloh“ oder „der letzte Mensch“ – berühmt die Passagen aus seinem Zarathustra: „Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. Die Erde ist klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.“ Unschwer lässt sich hinter dieser Polemik die Figur des Gottlieb Biedermann erkennen. Dieser möchte ebenfalls behaglich leben, „seine Ruhe haben“ und der Obrigkeit gegenüber nicht unangenehm auffallen, indem er beispielsweise in Verdacht gerät, mit Brandstiftern zu tun zu haben.

Karl Marx hingegen sieht das Bürgertum ambivalenter. Zunächst erscheint es ihm als die folgerichtige Entwicklungsstufe einer anhaltenden Befreiungsgeschichte. Das Bürgertum sei in der Lage, die Erwerbsarbeit neu zu strukturieren und damit die feudal organisierte Aristokratie zu Fall zu bringen. Im Anschluss würde es sich mit der Arbeiterschaft verbünden und entscheidend zur klassenlosen Gesellschaft beitragen. Zu seiner Enttäuschung kam es aber anders. Anstatt sich mit der Arbeiterschaft zu solidarisieren, legen sich die Bürger mit der Aristokratie ins Bett. Zudem zeigt sich, dass der Wunsch, ebenfalls ein bürgerliches Leben zu führen, auf Seiten der Arbeiterschaft zu weiten Teilen die Revolutionsbestrebungen überwog. Marx verabschiedete sich deshalb von seiner Vorstellung, das Proletariat wäre das historisch-revolutionäre Subjekt. Rhetorisch überspitzt beschimpfte er abtrünnige Teile als „Lumpenproletariat“, also als Gauner, die den schnellen Weg des individuellen Reichtums suchen und nicht den beschwerlichen Weg zum Wohle aller auf sich nehmen wollen.

Biedermann und die Brandstifter

Letztere finden nun ebenfalls Eingang in Biedermann und die Brandstifter. Die beiden Brandstifter Sepp Schmitz und Willi Eisenring kommen in der fünften Szene zum Abendessen, zu welchem Gottlieb Biedermann geladen hat. Zur Verwunderung der beiden, und ganz im Sinne Nietzsches, hat sich der bürgerliche Gastgeber absichtlich klein gemacht. Er wies das Dienstmädchen an, die Wasserschalen oder die Messerbänklein zu entfernen. Jeglicher Eindruck des Überflusses soll vermieden werden. Doch die Szenerie gewinnt ihren entlarvenden Witz in der Folge just dadurch, dass der „Erdenfloh“ Biedermann auf zwei „Lumpenproletarier“ trifft, die exakt das haben wollen, was er zu verstecken versucht. Willi Eisenring, ein ehemaliger Kellner, stellt dann sogar die verhinderten Verhältnisse her, indem er die Silber- und Kristallwaren wieder auf den Tisch legt.

Die Meisterschaft von Max Frisch liegt demnach darin, dass er es versteht, Maskierung und Demaskierung der beiden Lebenswelten anhand der auftretenden Charaktere in seinem Stück zu entlarven. Hierfür bedient er sich explizit der Farce, zu welcher laut Marx die Geschichte ohnehin verkommt, je öfter sie sich wiederholt. Sowohl das sich verstellende Bürgertum als auch das sich stellende Lumpenproletariat verweist auf die Tristesse jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die Mitte des 20. Jahrhunderts buchstäblich explodiert sind – ob nun aus Selbstverzwergung des Bürgertums oder aus seiner fehlenden Solidarität zum Proletariat, ob aufgrund falscher Vorstellungen in den Köpfen der Arbeiter:innen oder ob schlichter krimineller Energie (oder einer Mixtur aus alledem); am Ende bleibt der Eindruck bestehen, dass Adornos Diktum durchaus Gültigkeit besitzt: Weder für den Biedermann noch für den Brandstifter gibt es ein richtiges Leben unter den falschen Bedingungen.

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