50 | Das Prinzip des Eigennutzes

WasmachenDramaturg:innen?

Der Endspurt der Saison 2022/23 war, wie es sich gehört, ein intensiver. Darum gerieten wir mit unserem Dramaturgie-Blog ein wenig ins Hintertreffen. Um aber nicht völlig unverabschiedet in die Ferien zu entweichen, sollen diese Woche noch zwei abschließende Beiträge erscheinen.

Nummer eins: Das Prinzip des Eigennutzes.

Im Zentrum der Diskurse ums Theater standen auch in der zu Ende gegangenen Saison die Themen Machtmissbrauch und toxischer Geniekult. Dabei zeichnete sich ab, dass auch – und vielleicht gerade – die vorige Generation von Theaterkünstler:innen eine toxische Arbeitsatmosphäre schuf, duldete und kultivierte, Übergriffe häufig nicht erkannte, dass sie – alles in allem – nicht unbedingt ein Vorbild hinsichtlich des Respektierens und der Wertschätzung von Mitarbeiter:innen war.

Nun wird oft darauf verwiesen, dass sie eben Kinder oder Zeitgenossen einer patriarchalen Gesellschaft waren, was dazu geführt habe, dass sie – ihrem eigenen kritischen Bewusstsein zuwider, vielleicht ohne es zu merken – die oben angeführten Unarten einfach übernommen hätten.
In Anbetracht des Bildungsgrades und des Hangs zur Selbstreflexion der angesprochenen Künstler:innen klingt das trotzdem nicht nach einer hinreichenden Erklärung. Große Künstler:innen wie, sagen wir: Peter Zadek, hätten nicht gemerkt, wenn sie ihre Mitarbeiter:innen auf den Proben in den Wahnsinn trieben? Während sie in ihrer Kommunikation nach außen hin dem Narrativ der Arbeit an einer besseren Welt zustimmten? Oder hielten sie Psychoterror im Theater für ein notwendiges Mittel zur Erreichung dieser besseren Welt?

Nicht, dass man die Argumentation noch nie zu hören bekommen hätte: Dass z.B. Schauspieler:innen, um Höchstleistungen zu erbringen, einen „Trainer“ brauchen, der die Peitsche schwingt, der sie „an die Grenzen“ treibt. Gerade darin liege ja die dienende Funktion dieses Trainers: Druck machen, unnötige Vorbehalte pulverisieren, dafür sorgen, dass die Schauspieler:innen in der Premiere mehr Angst vor dem Regisseur als vor dem Publikum haben.

Die Idee enthält sogar eine gewisse Eigenlogik, stößt jedoch schnell an Grenzen: Wurde ernsthaft eine bessere Welt, oder zumindest ein ästhetisches Ereignis angestrebt, indem man auf den Proben eine schlechtere Welt duldete? Und unästhetische Verhältnisse?

Sollte das Leiden von Theaterkünstler:innen innerhalb der Mauern des Theaters dabei helfen, das der Zuschauer:innen draußen in der Welt zu verringern?

Niemand glaubte so etwas.
Versatzstücke dieser Idee („Theater ist kein Ponyhof“) tauchen dennoch im Kulturbetrieb, sogar im Feuilleton, immer wieder auf. Verbreitet kam im Theateralltag eine zugespitzte Version des Argumentes vor, die ungefähr so ging:

Das Theater ist ein Haifischbecken, wer darin überleben will, muss sich seiner Haut erwehren, die Bedrohung kommt aus allen Richtungen. „Solange ich auf der richtigen Seite der Front stehe, sollen mir alle Mittel des Kampfes recht sein, sie werden mir von meinen Widersachern ja diktiert.“
Nebenbei: Eine Argumentation, mit der in der Geschichte schon ganz andere Sachen gerechtfertigt wurden.

Und wäre das deutsche Stadttheater so eine Art Weltkriegsschauplatz, auf dem eine künstlerisch erfolgreiche Inszenierung den Nazis die Weltherrschaft entreißen kann, könnten wir nicht viel dagegen sagen.
Aber: So ist es ja zum Glück nicht.

Um also zu erklären, dass selbst fortschrittliche, wohlgesinnte Künstler:innen nach 1968 in den Theatern eine Kultur der Einschüchterung nicht nur akzeptierten, sondern sogar radikalisierten, braucht es mehr.
Zitiert wird in diesem Zusammenhang stets der Geniebegriff, der zugegeben problematisch ist, insbesondere im Zusammenhang mit einer Art von Wettkampf-Denken: Das Genie ist demnach der, der oben auf dem Treppchen landet, und da sich – diesem Denken folgend – geniale Leistung (durch Vergleich mit anderen) sogar messen lässt, ist die Idee für einen Teil des Publikums sehr einleuchtend.

Nun hätte Pierre de Coubertin gesagt, oben auf dem Treppchen landet nur, wer keine unlauteren Mittel anwendet, wer Fairness, Sportsgeist, Freundschaft kultiviert.
Was uns zu einer Werteverschiebung bringt, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch in liberalen Milieus Einzug hielt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, und noch mehr: ab 1968, trat der Individualismus an die Stelle der großen Ideologien, dieser war man ohnehin müde. War nicht, wer nur sich selbst dient, weniger verführbar für faschistische Tendenzen? War nicht Eigennutz der kleinste Baustein der Demokratie? Lang zuvor von Adam Smith ersonnen, steigt die Ideologie des Eigennutzes zum Stern des neoliberalen Zeitalters auf.

Die Ideen vom Künstlertum, das schon seit dem 19. Jahrhundert zum Individualismus neigte, folgten diesem Trend.

Es war aber auch alles irgendwie zu schön: Hatte nicht schon Brecht gesagt, dass Heldentum und Selbstaufopferung Symptome eines tödlichen Systems seien? Gut, er hatte daraus nicht den Schluss gezogen, dass der Mensch und gar der Künstler nur sich selbst noch dienen sollen. Vielmehr sollten beide die gesellschaftlichen Zustände verbessern – also: Dienst an der Gemeinschaft tun. Doch braucht ein Dienst am gesellschaftlichen Ganzen irgendeine Ideologie als Richtschnur. Und Ideologien waren gefährlich. (War nicht Brecht auch Kommunist?) Darum ließ man diesen Teil der Brechtʼschen Absage an das heroische Menschenbild lieber außen vor. Hingegen die Idee: herauszufinden, was der eigene Bauch, das eigene Gefühl will, und dadurch (durch die unsichtbare Hand des Markts) auch noch die Welt zu retten, fühlte sich so an, als wär gar keine Ideologie darin enthalten.

Selbsterfahrung bis zum Äußersten und das Prinzip des Eigennutzes, der nach Adam Smith notwendig dem Gemeinwohl dient, prägten die westliche Kultur und ihre Künstler:innen.
Nun mögen Eigennutz und Selbsterfahrungstrips in Kunstgattungen, die den Künstler isolieren, wie Malerei, Komposition, Schriftstellerei, ihr hässliches Gesicht nicht so schnell zeigen wie in Gattungen, die von Künstlerkollektiven ausgeübt werden, wie Symphonische Musik, Tanz und Theater.
Aber sogar in der äußeren Welt, die nicht in erster Linie Kunst sein will, sehen wir heute überdeutlich, dass die unsichtbare Hand des Markts und das Prinzip des Eigennutzes die Welt nicht mehr retten können. Sie sind sogar eher ein Teil der Ursache unserer größeren Probleme.
Es ist eine Frage der Zeit, dass der Trend auch im Theater durchdringt. (Angekommen ist er dort ja längst.)
Kein Mensch ist eine Insel. Das Genie ist nie allein. Zusammenspiel und Rücksichtnahme bringen mehr als Egotrips.
Aber: Irgendeine Richtschnur wird es brauchen, wenn Gemeinnutz über Eigennutz stehen soll. Eine weitere Abkehr vom Politischen, wie das Zeitalter des Individualismus sie letztlich gewollt hat, wird nicht möglich sein, wenn wir uns retten wollen.

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