Professor Schnitzler und die Erfindung des Antisemitismus

Stephanie Mohr inszeniert Arthur Schnitzlers Klassiker Professor Bernhardi im Schauspielhaus.

PremierenfieberProfessorBernhardi

Arthur Schnitzler nennt sein Stück Professor Bernhardi im Jahr 1912 eine Komödie. Eine Bezeichnung, die uns Heutige beinah befremdet. Warum? Worum geht es im Bernhardi: Am Anfang steht ein Krankenhausskandal: Der Direktor einer Wiener Poliklinik verweigert einem Priester den Zutritt zu einer Todkranken, weil diese sich im Fieber für geheilt hält und sich einbildet, sie werde gleich von ihrem Geliebten abgeholt. Das Auftreten des Geistlichen mit der Letzten Ölung würde sie aus diesem schönen Traum herausreißen. Der Zwischenfall wird bekannt, und es baut sich eine Welle des Protests gegen den Arzt auf.

Schnitzler flicht noch einen zweiten Handlungsstrang ein: Zugleich soll in der Klinik ein Leitungsposten neu besetzt werden, und mehrere Abteilungsleiter sprechen sich für einen Bewerber aus, den der Klinikleiter Bernhardi für zweitrangig hält. Es gibt einen erstrangigen Bewerber, der aber in den Augen seiner Widersacher dem anderen gegenüber einen Makel hat: nämlich, dass er Jude ist. Allerdings ist auch der Klinikchef Bernhardi Jude, ebenso wie eine Reihe anderer Vorstände der Klinik. Als Bernhardi im Skandal um die verhinderte Letzte Ölung politisch unter Druck gerät, schlagen seine Gegner ihm in der Angelegenheit der Stellenneubesetzung einen Kuhhandel vor: Bernhardi soll in die Wahl des zweitrangigen Mannes einwilligen, dann würden sie ihre Beziehungen benutzen, um das drohende politische Gewitter von ihm abzuwenden. Der Postenschacher bringt Bernhardi auf die Barrikaden. Unter Druck will er erst recht nicht klein beigeben, er nutzt seine Befugnisse, den erstklassigen Mann einzustellen und weigert sich, sich bei dem Priester, der die Kranke salben wollte, zu entschuldigen. Damit setzt er eine Kettenreaktion in Gang, in der seine Widersacher alles tun, um ihn zu suspendieren und seines Amtes zu entheben.

Seit der Revolution von 1848 wurden den Juden im Kaiserreich gewisse Bürgerrechte zugesprochen – dann wieder zurückgenommen, später wieder eingeräumt –, die sie hier jahrhundertelang nicht genossen hatten. Mit der Wandlung Wiens in eine moderne Metropole und dem massenhaften Zuzug von Bevölkerung wuchs auch die zu Anfang des Jahrhunderts kleine jüdische Gemeinde.

Die neuen Bildungsangebote wurden von der jüdischen Bevölkerung in überdurchschnittlichem Maß wahrgenommen, Ende des 19. Jahrhunderts stellte sie über ein Drittel der Studenten Wiens – während sie keine 7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die medizinische Fakultät hatte um 1890 über 60 Prozent jüdischer Studenten. Wissenschaft und Bildung wurden in der jüdischen Kultur traditionell höher geachtet als unter Christen, die statistisch gesehen weniger bereit waren, Zeit und Aufwand in ihre Ausbildung zu investieren – die aber neidvoll und zum Teil mit Unverständnis feststellten, dass Juden in der Wissenschaft bald überrepräsentiert waren. Ähnliches galt für die neu entstehenden Wirtschaftszweige.

Professor Bernhardi Ensemble
Foto: Petra Moser

Zu Beginn der 1870er Jahre entschloss sich eine Gruppe jüdischer Ärzte, auch weil ihnen an anderen Instituten der Aufstieg schwer gemacht wurde, zur Gründung einer Poliklinik unter eigener Leitung. Um antijüdischen Ressentiments vorzubeugen, verpflichtete das Institut sich zur „unentgeltlichen Behandlung und Verpflegung armer Kranker“, ohne Ansehung von Nationalität und Konfession. Die Poliklinik reüssierte und musste in den kommenden Jahrzehnten mehrmals in je größere Gebäude umziehen. Von 1884 bis 1893 leitet Johann Schnitzler, Arthur Schnitzlers Vater, die Klinik als Direktor. Als Spezialist für Hals- und Brustkrankheiten wird seine Hilfe nicht zuletzt von Sänger:innen, Schauspieler:innen und Adeligen stark gesucht. Ähnlich dem Professor Bernhardi in Schnitzlers Stück hat auch er einen Sohn, der als junger Arzt in seiner Klinik arbeitet, sich aber mehr und mehr zur Kunst hingezogen fühlt. 1913 schrieb der Kritiker Georg Brandes in einer Wiener Zeitung über Professor Bernhardi: „Das Stück behandelt ein Lebensschicksal, wie es der Vater des Dichters erfahren hatte. Er wurde, gleich dem Professor Bernhardi des Stückes, aus dem Hospital, das er selbst gegründet und geleitet hatte, hinausintrigiert, wurde hinausgedrängt von den Untergebenen, die er selbst angestellt hatte, und zwar aus der nämlichen Ursache […] eines im Dienste eigensüchtiger Zwecke ausgenützten Religions- und Rassenhasses.“

Schnitzler widersprach dieser Idee von Parallelität zwischen Biografie und Stück in einem Brief an Brandes: „Mein Vater hat wohl seinerzeit, mit Freunden zusammen, ein Krankeninstitut in der Art des Elisabethinums gegründet, hat es gegen mancherlei Anfeindungen mit Aufgebot seiner ganzen Begabung und Tatkraft, natürlich nicht ohne die Mithilfe ausgezeichneter Arbeits- und Kampfgefährten, zu hoher Blüte gebracht und musste insbesondere gegen Schluss seines Lebens von mancher Seite Undank und Kränkung erfahren; – aber wenn sein Ausscheiden aus dem von ihm gegründeten Institut vielleicht auch Einem oder dem Anderen nicht unangenehm gewesen wäre, er ist keineswegs ‚hinausintrigiert‘ worden. […] Meine Komödie hat keine andere Wahrheit als die, dass sich die Handlung genau so, wie ich sie erfunden habe, zugetragen haben könnte, – zum mindesten in Wien zu Ende des vorigen Jahrhunderts.“ Notabene: Auch in Schnitzlers Stück wird der Bernhardi nicht vollends aus seinem Institut ‚hinausintrigiert‘, im 5. Akt wird angekündigt, dass er bald vielleicht wieder als Klinikleiter eingesetzt wird. So viel zur Komödie.

Professor Bernhardi Ensemble
Foto: Petra Moser

Die wirkliche Schlüsselfigur der Geschichte ist ein Minister namens Flint, in dessen Hand Bernhardis Schicksal im entscheidenden Moment liegt, und der zwischen zwei Koalitionspartnern im Parlament hin und her laviert: den Deutschnationalen und den Christlichsozialen.

Beides Auffangbecken der Benachteiligten unterschieden die Parteien sich in ihrer Ausrichtung: Die Nationalen unter ihrem Anführer Georg Ritter von Schönerer versammelten sich um Volk und Vaterland, die Sozialen unter Dr. Karl Lueger propagierten einen „christlichen Staat“. Konkurrenten, die sie waren, konnten sie sich doch auf einen gemeinsamen Feind einigen: die Juden.

Zwar betrachtete die christliche Partei das Judentum hauptsächlich als andere Konfession, unterschied also zwischen gläubigen und konvertierten Jüdinnen und Juden, die Nationalen hingegen hatten die Rassenlehre für sich entdeckt und sahen Juden nicht als Religionsgemeinschaft sondern: „Ob Jud, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei!“ Es ist der historische Moment, in dem der mittelalterliche, christliche Antijudaismus zum rassistischen Antisemitismus wird.

Die Populisten Schönerer und Lueger machten Abstiegsangst und Elend ihrer Wähler zum Nährboden florierender Bewegungen. Die seit Jahrhunderten im Abendland als Sündenbock missbrauchten Juden mussten wieder als Verursacher aller möglichen Probleme herhalten. Die Christlichsoziale Partei machte sie für die wirtschaftliche Krise nach dem Börsenkrach von 1873 verantwortlich.

In Anbetracht ihres Engagements um das Gemeinwesen, auch ihrer Identifikation mit der Kultur des Habsburgerreichs konnten viele Jüdinnen und Juden Wiens den populistischen Antisemitismus nicht recht nachvollziehen. Gab es unter ihnen doch bedeutende Mäzene, Förderer sozialer Einrichtungen, Wissenschaftler, Ärzte, Staatsdiener und Militärs. Die Idee, dass ihre gesellschaftliche Minderheit die selbstgemachten Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Mehrheit verursacht haben sollte, musste ihnen als irrwitziges mittelalterliches Märchen vorkommen.

Schnitzlers vermeintliche Komödie zeigt die Hauptstadt der Monarchie als Ort, an dem gekungelt und geschachert wird, in der das taumelnde Weltreich sich langsam selbst ruiniert. Der Antisemitismus ist ihm nicht viel mehr als ein Requisit im Kampf um Geld und Macht, im Ringen zwischen Aufklärung und Populismus.

Ahnte Schnitzler 1912, wohin das alles führen sollte? Vielleicht hätte er sein Stück dann nicht „Komödie“ genannt. Uns Heutigen ist es fast nicht möglich, es noch so zu nennen. Die packende Momentaufnahme einer zerfallenden Gesellschaft ist es allemal und mehr denn je.

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