Thema waren also Dinge, die sich hinter der Bühne oder daneben, jedenfalls jenseits der Sphäre des Ästhetischen abspielen. Ihre Erörterung warf die Frage auf, ob es solche Regeln nicht auch auf der Ebene des Ästhetischen und Zeichenhaften gibt. Und die korrekte Antwort lautet: Klar gibt’s die. 1.) Überall wo Inhalt oder freie Rede durch wirkliche Gesetze, Ethik, Politik beschränkt werden. 2.) Gibt es ästhetische Regelsysteme wie Brechts episches oder Stanislawskijs psychologisches Theater, deren „Regeln“ aber nur im Zusammenhang Bedeutung haben. Grundsätzlich ist das Theater ein leerer Raum (Peter Brook), in dem alles möglich ist. In der Theorie.
Mit ähnlichen Ideen wurde der Autor dieser Zeilen eines Tages von der Universität entlassen, kam als Assistent an ein Theater in der Schweiz und dort unter die Fittiche (wenn man so sagen darf) eines schon reiferen Theater-Ehepaars (Ex-Ehepaar), die ihrerseits die Kinder von Schauspieler:innen und Operettenhelden waren, die in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten die Provinzen des Habsburgerreichs durchtingelt hatten. Und die begegneten dem Reich des Spiels mit Regeln und Gewissheiten, wie sie Bergführer vielleicht auch von den Alpen aufzählen können, die unserem Autor aber wie Märchen aus Tausendundeinernacht vorkamen. Beginnend mit jener Erzählung von dem Papa Otti und der Mama Marietta: Davon wie die Frau Mama den Herrn Papa zum ersten Mal in der Rolle des Sándor Barinkay auf einer Bühne gesehen hatte: „Und wie der Otti auf die Bühne trat und zu singen anfing, wurde um ihn herum alles weiß, so gut war es.“
Nachsatz: „Denn wenn etwas im Theater wirklich gut ist, wird ja plötzlich immer alles weiß.“
Aber wie kam es nun dahin, dass alles weiß wurde? Die bereits erwähnten modernen Schauspielregelwerke haben ihre Beschränkung meistens darin, dass sie ein System innerhalb einer Theorie, manchmal innerhalb einer Ideologie, darstellen (Wozu ist das Theater gut? Was kann es bewirken? usw.). Die Besonderheit am Wissen meiner beiden alten Bühnentiere war, dass alle ihre Mühen theoretisch jenem einen Ziel zustrebten: dass alles weiß wurde. Und darüber hinaus waren diese Regeln und Methoden unhinterfragbar. Regeln, welche mir davor nur in ironisierter Form oder in Kurzfassung begegnet waren, wie: „Den König spielen immer die anderen.“ Was etwa bedeutet: Du kannst dich auf der Bühne aufspielen, wie du willst, wenn dein Partner dir nicht zuhört, bist du nicht der König. Wenn dein Partner dich aber behandelt, als wärst du einer, bist du es, auch wenn du den Trottel spielst. In der Welt von Bobby und Maria kamen da noch ein paar weitere Paragraphen hinzu. So:
1: Dem Partner nicht dazwischenatmen.
- Ihn anschauen, wenn er redet.
- Auch keine Faxen machen, wenn der andere redet. (Bild schlägt Ton.)
- Sowieso keine Faxen machen.
- Der Chef steht in der Mitte. (Darum ist auf der Probebühne auch die Mittellinie markiert.)
- Keiner, der etwas zu sagen hat, steht hinter dem Chef. (Der müsste sich sonst umwenden, wenn er zu einer Partner:in spricht, dann aber sieht die Zuschauer:in ihn nicht oder sieht nur sein Profil. Den Hauptdarsteller muss das Publikum aber von vorn sehen, damit es ihm in die Augen sehen kann. Sonst ist er nicht der Hauptdarsteller. Darum sind Hauptdarsteller:innen darauf angewiesen, dass die Bühnenpartner:innen schräg vor ihnen stehen, ohne sie zu verdecken. Andernfalls – ein Hilfsmittel – müssen die Hauptdarsteller:innen ihre Partner:innen einfach gar nicht ansehen, sondern nach vorn schauen und in den Saal sprechen. Vor allem Letzteres – das Schräg-vor-dem-Hauptdarsteller-Stehen-und-ihn-Anschauen – ist eine Sache, die speziell Anfänger:innen gerne ignorieren – da das offenbar, so Bobby und Maria, an den Schauspielschulen auch nicht mehr gelehrt wird*. (Schauspielschulen machen heute eben nur Ideologiekram, haben aber von Theater keine Ahnung.)
Eine andere, stark verkürzte Fassung einer ihrer ewigen Theaterregeln lautet (und in dieser Version begegnete sie einem in den 90er und Nuller Jahren ständig:)
„Dezenz ist Schwäche.“
Und hier die Langfassung:
- Bühnenvorgänge vergrößern.
- Akustik gibt es nicht. („Miich hat man immerrr verrrschtanden!“)
- Auf der Bühne immer mit Gefühl!
Aber, 4. Nicht du musst es spüren, die müssen es spüren.
Obwohl die Schauspieler:in auf der Bühne sich emotional in ihre Figur hineinversetzt („auf der Bühne mit Gefühl“), darf sie dabei nicht vergessen, dass, noch mehr als sie, die Zuschauer:innen sich in ihre Figur hineinversetzen sollen. Darum dürfe die Akteurin sich nicht von den Emotionen der Figur wegtragen lassen, sondern müsse diese ebenso kontrollieren wie die Emotionen ihres Publikums. Wenn dieses allerdings von den Emotionen der Figur hinweggetragen wird, ist es ein Erfolg. (Eine Vorstellung, die – nebenbei bemerkt – wenn auch aus entgegengesetzten Gründen sowohl Konstantin Stanislawskij als auch Bert Brecht ein Graus gewesen wäre. Aber das ist eben dieser Ideologiekram.)
Und eine letzte Weisheit, die ich zuvor nur in verkürzter, ironisierter Form kennengelernt hatte, lautete:
Ein Bein ist frei, das ist das Spielbein, auf dem anderen musst du stehen und dich dem Publikum entgegenstemmen. Das Publikum verursacht einen Druck, dem du standhalten musst. Sonst wirft es dich um. Entweder du hältst das Publikum oder es lässt dich fallen.
Moderne Kurzfassung (pejorativ): „Das war Standbein-Spielbein-Theater!“
Der Autor dieser Zeilen war kein Schauspieler, darum teilten ihm die beiden Alten nur Bruchstücke ihres Wissens mit. Aber auch die würden den Rahmen dieses Blogs sprengen. Darum jetzt nur noch ein paar Best-Ofs (ohne viel Erläuterung):
- Linke Seite – starke Seite. (Gemeint ist die Position der Schauspieler:in auf der Bühne. Rechts und Links immer vom Zuschauerraum aus gesehen.)
- Wer von links kommt, kommt von innen, wer von rechts kommt, kommt von außen. (Hab ich nie verstanden, vielleicht, weil an den Theatern, an denen ich engagiert war, rechts der Bühne immer die Kantine lag.)
- Nach der Hauptprobe muss es Krach geben.
- Die Generalprobe muss schlecht sein.
- Am Premierentag nicht proben, sonst ist der Schmelz weg.
- Die zweite Vorstellung ist immer schlecht.
- Lacher durchlassen.
- Ein Schauspieler muss immer Luft unter den Fersen haben.
- Du musst das Publikum mit einem Lächeln in die Pause schicken.
- Ausatmen.
- Ein gutes Bühnenbild ist grau.
Warum ist ein gutes Bühnenbild grau? Damit sich sowohl dunkel als auch hell Gekleidete davon abheben. Außer sie machen alles richtig: Dann wird ohnehin um sie herum alles weiß.
* Das Schräg-vor-dem-Hauptdarsteller-Stehen-und-ihn-Anschauen ist eine Sache, der man im Theateralltag alle Naselang begegnet. So gab es an einem anderen Theater, an dem der Autor später arbeitete, einen Starschauspieler, dessen Frau nach jeder Vorstellung durch die Garderoben ging, um den Kolleg:innen Kritik zu geben. Die Kritik bestand in einem Satz: „Ihr müsst mit meinem Mann spielen.“ Was übersetzt so viel bedeutete wie: Bitte steht schräg vor ihm, ohne ihn zu verdecken, schaut ihn an, wenn er redet, und macht keine Faxen. Und atmet ihm nicht dazwischen.