42 | Die ewigen Gesetze

42 | Die ewigen Gesetze

  • 21. April 2023
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  • Text: Andreas Erdmann

Letzte Woche sprachen wir über die ungeschriebenen Gesetze des Theaters, aber eigentlich über die ungeschriebenen, sehr langsam nur veränderlichen Verkehrsregeln hinter der Bühne, die zwar eine Zeit lang das Zusammenleben in den deutschsprachigen Stadttheatern regulieren konnten, es zum Teil noch heute tun, die aber, wie wir sehen, offenbar gewaltige blinde Flecken aufweisen. Wie zum Beispiel die, aus denen nun seit Kurzem der #metoo-Komplex und alle möglichen anderen Fragen nach Gerechtigkeit, Benachteiligung, Ausbeutung usw. auftauchen.

Thema waren also Dinge, die sich hinter der Bühne oder daneben, jedenfalls jenseits der Sphäre des Ästhetischen abspielen. Ihre Erörterung warf die Frage auf, ob es solche Regeln nicht auch auf der Ebene des Ästhetischen und Zeichenhaften gibt. Und die korrekte Antwort lautet: Klar gibt’s die. 1.) Überall wo Inhalt oder freie Rede durch wirkliche Gesetze, Ethik, Politik beschränkt werden. 2.) Gibt es ästhetische Regelsysteme wie Brechts episches oder Stanislawskijs psychologisches Theater, deren „Regeln“ aber nur im Zusammenhang Bedeutung haben. Grundsätzlich ist das Theater ein leerer Raum (Peter Brook), in dem alles möglich ist. In der Theorie.

Mit ähnlichen Ideen wurde der Autor dieser Zeilen eines Tages von der Universität entlassen, kam als Assistent an ein Theater in der Schweiz und dort unter die Fittiche (wenn man so sagen darf) eines schon reiferen Theater-Ehepaars (Ex-Ehepaar), die ihrerseits die Kinder von Schauspieler:innen und Operettenhelden waren, die in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten die Provinzen des Habsburgerreichs durchtingelt hatten. Und die begegneten dem Reich des Spiels mit Regeln und Gewissheiten, wie sie Bergführer vielleicht auch von den Alpen aufzählen können, die unserem Autor aber wie Märchen aus Tausendundeinernacht vorkamen. Beginnend mit jener Erzählung von dem Papa Otti und der Mama Marietta: Davon wie die Frau Mama den Herrn Papa zum ersten Mal in der Rolle des Sándor Barinkay auf einer Bühne gesehen hatte: „Und wie der Otti auf die Bühne trat und zu singen anfing, wurde um ihn herum alles weiß, so gut war es.“

Nachsatz: „Denn wenn etwas im Theater wirklich gut ist, wird ja plötzlich immer alles weiß.“

Aber wie kam es nun dahin, dass alles weiß wurde? Die bereits erwähnten modernen Schauspielregelwerke haben ihre Beschränkung meistens darin, dass sie ein System innerhalb einer Theorie, manchmal innerhalb einer Ideologie, darstellen (Wozu ist das Theater gut? Was kann es bewirken? usw.). Die Besonderheit am Wissen meiner beiden alten Bühnentiere war, dass alle ihre Mühen theoretisch jenem einen Ziel zustrebten: dass alles weiß wurde. Und darüber hinaus waren diese Regeln und Methoden unhinterfragbar. Regeln, welche mir davor nur in ironisierter Form oder in Kurzfassung begegnet waren, wie: „Den König spielen immer die anderen.“ Was etwa bedeutet: Du kannst dich auf der Bühne aufspielen, wie du willst, wenn dein Partner dir nicht zuhört, bist du nicht der König. Wenn dein Partner dich aber behandelt, als wärst du einer, bist du es, auch wenn du den Trottel spielst. In der Welt von Bobby und Maria kamen da noch ein paar weitere Paragraphen hinzu. So:

1: Dem Partner nicht dazwischenatmen.

  1. Ihn anschauen, wenn er redet.
  2. Auch keine Faxen machen, wenn der andere redet. (Bild schlägt Ton.)
  3. Sowieso keine Faxen machen.
  4. Der Chef steht in der Mitte. (Darum ist auf der Probebühne auch die Mittellinie markiert.)
  5. Keiner, der etwas zu sagen hat, steht hinter dem Chef. (Der müsste sich sonst umwenden, wenn er zu einer Partner:in spricht, dann aber sieht die Zuschauer:in ihn nicht oder sieht nur sein Profil. Den Hauptdarsteller muss das Publikum aber von vorn sehen, damit es ihm in die Augen sehen kann. Sonst ist er nicht der Hauptdarsteller. Darum sind Hauptdarsteller:innen darauf angewiesen, dass die Bühnenpartner:innen schräg vor ihnen stehen, ohne sie zu verdecken. Andernfalls – ein Hilfsmittel – müssen die Hauptdarsteller:innen ihre Partner:innen einfach gar nicht ansehen, sondern nach vorn schauen und in den Saal sprechen. Vor allem Letzteres – das Schräg-vor-dem-Hauptdarsteller-Stehen-und-ihn-Anschauen – ist eine Sache, die speziell Anfänger:innen gerne ignorieren – da das offenbar, so Bobby und Maria, an den Schauspielschulen auch nicht mehr gelehrt wird*. (Schauspielschulen machen heute eben nur Ideologiekram, haben aber von Theater keine Ahnung.)

Eine andere, stark verkürzte Fassung einer ihrer ewigen Theaterregeln lautet (und in dieser Version begegnete sie einem in den 90er und Nuller Jahren ständig:)

„Dezenz ist Schwäche.“

Und hier die Langfassung:

  1. Bühnenvorgänge vergrößern.
  2. Akustik gibt es nicht. („Miich hat man immerrr verrrschtanden!“)
  3. Auf der Bühne immer mit Gefühl!

Aber, 4. Nicht du musst es spüren, die müssen es spüren.

Obwohl die Schauspieler:in auf der Bühne sich emotional in ihre Figur hineinversetzt („auf der Bühne mit Gefühl“), darf sie dabei nicht vergessen, dass, noch mehr als sie, die Zuschauer:innen sich in ihre Figur hineinversetzen sollen. Darum dürfe die Akteurin sich nicht von den Emotionen der Figur wegtragen lassen, sondern müsse diese ebenso kontrollieren wie die Emotionen ihres Publikums. Wenn dieses allerdings von den Emotionen der Figur hinweggetragen wird, ist es ein Erfolg. (Eine Vorstellung, die – nebenbei bemerkt – wenn auch aus entgegengesetzten Gründen sowohl Konstantin Stanislawskij als auch Bert Brecht ein Graus gewesen wäre. Aber das ist eben dieser Ideologiekram.)

Und eine letzte Weisheit, die ich zuvor nur in verkürzter, ironisierter Form kennengelernt hatte, lautete:

Ein Bein ist frei, das ist das Spielbein, auf dem anderen musst du stehen und dich dem Publikum entgegenstemmen. Das Publikum verursacht einen Druck, dem du standhalten musst. Sonst wirft es dich um. Entweder du hältst das Publikum oder es lässt dich fallen.

Moderne Kurzfassung (pejorativ): „Das war Standbein-Spielbein-Theater!“

Der Autor dieser Zeilen war kein Schauspieler, darum teilten ihm die beiden Alten nur Bruchstücke ihres Wissens mit. Aber auch die würden den Rahmen dieses Blogs sprengen. Darum jetzt nur noch ein paar Best-Ofs (ohne viel Erläuterung):

  1. Linke Seite – starke Seite. (Gemeint ist die Position der Schauspieler:in auf der Bühne. Rechts und Links immer vom Zuschauerraum aus gesehen.)
  2. Wer von links kommt, kommt von innen, wer von rechts kommt, kommt von außen. (Hab ich nie verstanden, vielleicht, weil an den Theatern, an denen ich engagiert war, rechts der Bühne immer die Kantine lag.)
  3. Nach der Hauptprobe muss es Krach geben.
  4. Die Generalprobe muss schlecht sein.
  5. Am Premierentag nicht proben, sonst ist der Schmelz weg.
  6. Die zweite Vorstellung ist immer schlecht.
  7. Lacher durchlassen.
  8. Ein Schauspieler muss immer Luft unter den Fersen haben.
  9. Du musst das Publikum mit einem Lächeln in die Pause schicken.
  10. Ausatmen.
  11. Ein gutes Bühnenbild ist grau.

Warum ist ein gutes Bühnenbild grau? Damit sich sowohl dunkel als auch hell Gekleidete davon abheben. Außer sie machen alles richtig: Dann wird ohnehin um sie herum alles weiß.

 

* Das Schräg-vor-dem-Hauptdarsteller-Stehen-und-ihn-Anschauen ist eine Sache, der man im Theateralltag alle Naselang begegnet. So gab es an einem anderen Theater, an dem der Autor später arbeitete, einen Starschauspieler, dessen Frau nach jeder Vorstellung durch die Garderoben ging, um den Kolleg:innen Kritik zu geben. Die Kritik bestand in einem Satz: „Ihr müsst mit meinem Mann spielen.“ Was übersetzt so viel bedeutete wie: Bitte steht schräg vor ihm, ohne ihn zu verdecken, schaut ihn an, wenn er redet, und macht keine Faxen. Und atmet ihm nicht dazwischen.

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Als der Autor dieser Zeilen ein junger Mensch war und seine Heimatstadt verlassen musste, um im kalten Hamburg zu studieren (es hatte irgendetwas mit Theater zu tun), gab es noch kein Internet und Studentenwohnungen fand man durch Beziehungen, die AStA-Wohnungsvermittlung oder durch Kleinanzeigen in der Zeitung.

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Wer von Dramaturg:innen spricht, sieht sie vor seinem inneren Auge gerne in Büros oder Cafés sitzen, Emails schreiben, Stücke lesen, diskutieren. Einen großen Teil ihrer Zeit sitzen Dramaturg:innen jedoch schweigend in der Dunkelheit auf Probenbühnen und beobachten die Vorgänge. Das ist eine besondere Tätigkeit, denn während die meisten anderen Menschen auf der Probe eine äußerlich sichtbare Tätigkeit verfolgen, also spielen, sprechen, zuschauen, unterbrechen, mitschreiben oder auf die Kaffeemaschine aufpassen, machen Dramaturg:innen eigentlich nichts. Sie sehen und hören zu. Aber selbst das sollten sie nicht zu intensiv tun. Dramaturg:innen sind auf den Proben in erster Linie anwesend. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns anschauen, wie die Aufgaben zwischen Regie und Dramaturgie auf den Proben verteilt sind.

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  • 24. März 2023

38 | Mit Regisseur:innen arbeiten

Und dann arbeiten Dramaturg:innen natürlich mit den Regisseur:innen zusammen. In der sogenannten Produktionsdramaturgie sind die Regisseur:innen die Hauptansprechpartner:innen der Dramaturg:innen. Beziehungsweise umgekehrt: Die Dramaturg:innen sind die Ansprechpartner:innen der Regisseur:innen – meist aber nicht die Haupt-Ansprechpartner:innen (das sind aus vielen Gründen eher die Bühnen- oder die Kostümbildner:innen). Die Arbeit an der Stück-Produktion teilt sich in drei Phasen: Vorbereitung, Proben, Aufführungen. Die intensivste Zusammenarbeit zwischen Regie und Dramaturgie findet in den ersten beiden Phasen, also in der Vorbereitung und der Probenzeit statt. Da Regisseur:innen im Lauf mehrerer Jahre meistens mehr als eine Inszenierung an einem Theater machen, halten die Dramaturg:innen auch zwischen den einzelnen Projekten mit Ihnen Kontakt und schauen sich andere Inszenierungen dieser Regisseur:innen an anderen Theatern an.

Schauspiel 37 | Besetzungen
  • 17. März 2023

37 | Besetzungen

Besetzungen zu machen gehört zu den heiligsten Geschäften, an denen Dramaturg:innen im Stadttheater teilnehmen. Dramaturg:innen machen ja nur wenige Arbeiten allein – wie ohnehin die meisten Aufgaben am Theater von niemandem allein bewältigt werden – und darum sind sie auch nur Teilnehmer:innen an der Entstehung der Besetzungen. Wer nimmt noch teil? In der Regel die Theaterleitungen, Regieteams und – die Schauspieler:innen. Diese sitzen zwar zumeist nicht mit am Tisch, wenn Besetzungen verhandelt werden (vor allem, weil sie selber stark Partei in Fragen der Besetzung sind), allerdings bewerben sie sich oft im Vorfeld um Rollen oder Mitwirkungen in bestimmten Stücken, was in die Besetzungsarbeit einfließt. Zwei Raster müssen aufeinanderkommen, wenn Besetzungen entstehen: 1) der Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse aller Mitwirkenden, 2) die Eigenlogik des Betriebs und der Projekte.

Schauspiel 36 | Fassungen II
  • 10. März 2023

36 | Fassungen II

Fassungen für das Theater werden aus den unterschiedlichsten Vorlagen: Es gibt Fassungen von ganz normalen Stücken, von Romanen und von Filmen. Selbst sogenannte Stückentwicklungen oder freie Projekte, die im Lauf der Proben entstehen, brauchen Fassungen, da müssen dann die Dramaturg:innen und Assistent:innen – und Hospitant:innen – auf den Proben dauernd alles mitschreiben und nachts (von einer Probe auf die andere) ins Reine schreiben. Eine grauenhafte Arbeit übrigens. Gut, dass so was heute nicht mehr möglich ist.

Schauspiel 35 | Fassungen I
  • 2. März 2023

35 | Fassungen I

Im echten Leben kann man sie verlieren oder schraubt sich eine Glühbirne hinein, im Theater (und noch mehr im Dramaturg:innenalltag) ist die Fassung ein alles entscheidendes, zentrales Ding, direkt nach der Besetzung und noch vor dem Programmheft. „Hast du schon die Fassung?“ – „Wann machen wir die Fassung?“

Schauspiel 34 | Interventionismus
  • 23. Februar 2023

34 | Interventionismus

Vergangene Woche war ich leichtsinnig genug zu versprechen, diese Woche eine Liste von Problemen vorzulegen, die in unserem Stadttheatersystem das Eingreifen einer Theaterleitung in den Probenprozess rechtfertigen.

Schauspiel 33 | Nicht Eingreifen
  • 16. Februar 2023

33 | Nicht Eingreifen

Vor einiger Zeit schrieb ein Theaterkritiker, der Autor dieser Zeilen hätte in seiner Funktion als Produktionsdramaturg bei einer Inszenierung „eingreifen müssen“. Hätte der Kritiker geschrieben, der Dramaturg habe seine Arbeit nicht getan, würde mir das zwar auch nicht gefallen, ich könnte aber nichts dagegen sagen. Der Ausdruck „Eingreifen“ hingegen (der sicher anders gemeint war, als ich ihn im Folgenden interpretiere) erinnert allerdings an Vorstellungen, denen Dramaturg:innen immer wieder begegnen – nicht nur bei Journalist:innen, auch bei Vorgesetzten –, dass Dramaturgie nämlich so etwas wie eine Theaterpolizei sei, die auf den Proben rumsitzt, um dann, wenn der Unfug überhandnimmt, einzuschreiten und dem Regisseur „auf die Finger zu klopfen“. Wie eine strenge Klavierlehrerin in den 1970er Jahren.

Schauspiel 32 | Programmhefteschreiben
  • 10. Februar 2023

32 | Programmhefteschreiben

Nahm man vor 30 Jahren das Programmheft einer Stadttheaterinszenierung in die Hand, dann wog dies in der Regel etwas schwerer als ein heutiges Programmheft, war weniger bunt und ein großer Teil der darin enthaltenen Texte stammte von französischen Philosophen (männlich), die der Schule des Poststrukturalismus zugerechnet werden konnten. Also Namen wie Baudrillard, Deleuze, Derrida und Žižek. Irgendwo fand sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein gedichtartig gesetztes Zitat aus dem Buch Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes. Wir reden hier übrigens nicht von den Programmheften einer bestimmten Art oder eines bestimmten Genres von Sprechtheater, sondern von Programmheften deutschsprachigen Sprechtheaters im Allgemeinen.

Schauspiel 31 | Stückelesen
  • 2. Februar 2023

31 | Stückelesen

Nachdem wir in den ersten Jahren dieses Blogs die großen Themen der Dramaturgie gewälzt haben, wollen wir jetzt mal eine Weile etwas kleinere Brötchen backen und auf unsere Eingangsfrage zurückkommen, nämlich: Was machen eigentlich Dramaturg:innen? Dramaturg:innen machen nämlich viele inhaltlich zwar irgendwie zusammenhängende, im praktischen Vollzug aber sehr wohl zu unterscheidende Dinge. Die wollen wir nun Kapitel für Kapitel durchgehen.

Schauspiel 30 | Zuviel Toxik?
  • 27. Januar 2023

30 | Zuviel Toxik?

Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem anderen Theater, als ich den Brief einer Zuschauerin zur Beantwortung bekam. (Das ist übrigens eine besonders schöne Aufgabe der Dramaturg:innen – Zuschriften beantworten. Dabei ist, was in den Zuschriften zu lesen ist, manchmal durchaus interessant. Manchmal allerdings auch nicht.) Der Brief, der mir damals auf den Schreibtisch flatterte, war allerdings sehr interessant, auch wenn mir das nicht unmittelbar klar war.

Schauspiel 29 | Soll ein Film nicht mehr gezeigt werden, weil einer seiner Schauspieler straffällig geworden ist?
  • 23. Januar 2023

29 | Soll ein Film nicht mehr gezeigt werden, weil einer seiner Schauspieler straffällig geworden ist?

Österreich und seine Kulturszene werden vom Skandal um einen Schauspieler erschüttert, der uns nicht allein mit den Verfehlungen dieses Einzelnen konfrontiert, sondern der den Vorhang über einer kriminellen Szene wegreißt, die Kinder missbraucht und sie für ihr Leben schädigt. Niemand kann gegen die Vorwürfe, die hier erhoben werden, kalt bleiben. Die große, nicht nur mediale Erschütterung deutet allerdings auch darauf hin, dass wir es normalerweise schaffen, die Problematik, welche keine Unbekannte ist, zu verdrängen, wenn uns nicht ein prominenter Fall wie der genannte daran hindert.

Schauspiel 28 | Diskurs und Quote
  • 12. Januar 2023

28 | Diskurs und Quote

Evolution unseres Theaters lautete die Forderung in der letzten Woche. Und Evolution ist nicht genau dasselbe wie Revolution, sie ist eher: Revolution, aber langsam. So langsam, dass sie niemandem wehtun muss. Und Evolution, klar, wollen sowieso alle. Es kann ja nichts so bleiben, wie es ist. Bleibt nurmehr die Frage: Evolution wohin? Und auch da könnte man meinen, solange ein Projekt der Aufklärung bestand, hätte es im Stadttheatersystem einen breiten Konsens gegeben, dass 1.) das Theater Teil dieses Projekts sein müsse und dass 2.) der Ruf nach „Aufklärung“ notwendig mit gewissen Grundbekenntnissen einhergeht, nämlich denen zu einer gerechteren, humaneren, an einem freien Diskurs interessierten Gesellschaft.

Schauspiel 27 | Frauen
  • 5. Januar 2023

27 | Frauen

„Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, steht in einem Roman, dessen Titel mir gerade entfallen ist. Und eigentlich sollte man denken, dass Fragen hinsichtlich von Macht, Repräsentanz und Fairness, über die sich dieser Blog in Bezug auf das Theater in den letzten Wochen beugte, in einer demokratischen Gesellschaft immer aktuell sind. Dasselbe müsste auch für Fragen nach Geschlechtergerechtigkeit und Präsenz von Frauen gelten. Tatsächlich haben Arbeitsgruppen seit den Nuller-Jahren unseres Jahrhunderts intensiv daran gearbeitet, diese Themen ins Bewusstsein der Gesellschaft (und der Theaterleute) zu heben. Diese Ideen wurden demnach mächtig, weil ihre Zeit gekommen war. Aber warum ist das eigentlich gerade jetzt?

Schauspiel 26 | Überschreibungen
  • 29. Dezember 2022

26 | Überschreibungen

Überschreibung ist das neue Reizwort, das einige Theaterfreunde heute auf die Palme bringt wie zuletzt das Wort Romanbearbeitung und zuvor Regietheater. Eine Überschreibung findet statt, wenn ein:e Autor:in ein älteres (meist klassisches) Stück nimmt, liest und dann beginnt, etwas Neues zu schreiben, das von der Lektüre des anderen Texts spürbar beeinflusst ist. Dabei kann ein Stück entstehen, das die Klassikerhandlung behutsam in die Gegenwart und dort in ein neues aber ähnliches Milieu wie das verlegt, in dem der Klassiker spielt (so in Ewald Palmetshofers Vor Sonnenaufgang, Maja Zades ödipus).

Schauspiel 25 | Die Kraft der Narrative
  • 22. Dezember 2022

25 | Die Kraft der Narrative

Wir waren bei zwei Paradebeispielen kontaminierter Klassiker, bei William Shakespeares Stücken Der Kaufmann von Venedig und Othello. Beide führen uns ethnische und religiöse Außenseiter einer christlich abendländischen Gesellschaft vor, im ersten Fall den mord- und geldgierigen Juden Shylock und im zweiten Fall den Afrikaner Othello, der zum Frauenmörder wird, weil er vor Eifersucht zu denken aufhört.

Schauspiel 24 | Kontaminierte Klassiker
  • 15. Dezember 2022

24 | Kontaminierte Klassiker

Da wir schon einmal bei aktuellen Schocker-Themen sind, kommt heute gleich das nächste: Böse Klassiker. In den vergangenen Jahrzehnten galt am deutschsprachigen Stadttheater die Faustregel, dass zwar die deutschen Nationalklassiker manchmal irren (also Schiller immer dann, wenn er sexistisch, nationalistisch oder antisemitisch ist), dass aber eine Bastion existiert, die in ihrer Undurchschaubarkeit und Tiefe immer Recht behalten muss, quasi der Urmeter des europäischen Theaters: William Shakespeare. Las man Shakespeares Stücke lang und aufmerksam genug, musste man zu dem Schluss kommen, dass Shakespeare bereits alles wusste und wir Heutigen es im Zweifelsfall weniger gut wissen.

Schauspiel 23 | Die guten alten schlechten Angewohnheiten
  • 8. Dezember 2022

23 | Die guten alten schlechten Angewohnheiten

Nun haben wir in drei Teilen das Thema Theater und Macht in handlichen Paketen abgefrühstückt. Aus der Innenperspektive ist die selbstkritische Revision, die die deutschsprachigen Bühnen gerade durchmachen, allerdings ein Riesenthema, das auch noch an viele andere Gebiete – Gendergerechtigkeit, politische Korrektheit, kontaminierte Klassiker usw. – angrenzt. Die Theater werden damit also so bald nicht fertig sein. Einige der erwähnten angrenzenden Themen sollten wir uns in den nächsten Wochen auch noch anschauen.

Schauspiel 22 | Die Macht im Theater
  • 1. Dezember 2022

22 | Die Macht im Theater

Im letzten Teil haben wir gesehen, dass das Theater auf die eine oder andere Art immer schon vom Staat abhängig war (und wo kein Staat war, waren Fürsten) – beziehungsweise abhängig gehalten wurde. (In einer Gesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen wäre natürlich auch das Theater frei.) Das Wesen dieser Abhängigkeit bestand stets in der Kontrolle über die Inhalte des Spiels. Diese Zensur wurde dadurch erleichtert, dass die Theater entweder ein Repertoire geschriebener Stücke hatten oder Improvisationen, die aus wiederkehrenden Versatzstücken bestanden. Wer die Kontrolle über diese Texte hatte, hatte auch die Macht über die Köpfe der Zuschauer:innen.

Schauspiel 21 | Die Macht und das Theater
  • 25. November 2022

21 | Die Macht und das Theater

Im Blog der letzten Woche habe ich kurz umrissen, inwiefern Macht in unseren Theaterstücken, also innerhalb der Bühnenhandlungen, häufig Thema ist. Bestes Beispiel Shakespeare – unruhig ruht das Haupt, das eine Krone trägt – , bei dem geht’s eigentlich kaum je um etwas anderes. Und wenn er scheinbar Liebesdramen schrieb, ging’s immer noch darum. Mussten aber Königinnen und Könige sich schon dauernd auf der Bühne dargestellt sehen, sorgten sie zumeist dafür, dass die Theatermacher wenigstens von ihnen abhängig waren, so dass sie, die König:innen, ein bisschen Einfluss auf die künstlerischen Blüten hatten, welche die Komödienmuse unablässig trieb.
Und damit wären wir bei der zweiten Ebene der Macht, die wir hier verhandeln wollen: Der Macht über das Theater.

Schauspiel 20 | Theater und Macht
  • 17. November 2022

20 | Theater und Macht

Weil die letzte Folge schon viel zu lange her ist, möchten wir nun wieder starten und die Reihe „Was machen Dramaturg:innen?“ auf unserem Blog fortsetzen. Jede Woche gibt Andreas Erdmann, leitender Schauspieldramaturg, in seiner Kolumne wieder spannende Einblicke in die Welt des Theaters und die Arbeit eines/einer Dramaturg:in. Die ersten der neuen Folgen widmen sich dem Thema „Theater und Macht“ und beleuchten deren Verhältnis auf und hinter der Bühne.

Schauspiel 17 | Shakespeare
  • 14. April 2020

17 | Shakespeare

Für einen Stadttheaterdramaturgen habe ich nun in untypischem Ausmaß der Werktreue das Wort geredet. Dass Theaterprofis gegen diese häufig grundsätzliche, theoretisch unumgängliche Vorbehalte hegen, habe ich hinlänglich erklärt, dass das Theaterpublikum die Vorbehalte nicht im gleichen Maße teilt, ebenfalls.

Schauspiel 16 | Werktreue
  • 27. März 2020

16 | Werktreue

Nachdem wir in den letzten Teilen unseres Blogs viel über die innere Verfassung unserer Stadttheater gehört haben, über den Preis, den die Theaterschaffenden für die Wahl ihres Berufes zahlen, über die Rolle, die die Direktor*innen in diesem System spielen, wäre es heute eigentlich daran gewesen, auf die Kritik einzugehen, die (auch) aus dem Inneren dieses Systems kommt, und die, mitunter aus verschiedenen Richtungen, meistens auf die Machtverteilung und den Machtgebrauch im Theater zielt.

Schauspiel 15 | Aufwand und Autorschaft
  • 3. März 2020

15 | Aufwand und Autorschaft

Ich wuchs also in einem katholischen Umfeld auf. Hin und wieder kam ich dadurch in Berührung mit Angehörigen des Jesuitenordens. Nachher wurde ich dann meistens von Familienmitgliedern auf die Besonderheit des Lebens der Soldaten Christi hingewiesen.

Schauspiel 12 | Proben und Probieren
  • 13. Januar 2020

12 | Proben und Probieren

Es gibt verschiedene Parameter, deren Schwanken man betrachten kann, um jene besonderen Ressourcen zu verstehen, die den Theatern deutscher Sprache in den 70ern und 80ern des vorigen Jahrhunderts zu Gebote standen: Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Probenzeiten, die den Produktionsteams jener Tage für einzelne Inszenierungen eingeräumt wurden.

Schauspiel 11 | Die wilden 70er
  • 9. Januar 2020

11 | Die wilden 70er

Die wilden 70er: Unrasierte Nackte stürmen die Theaterbühnen, Stückzertrümmerungen, Publikumsbeschimpfungen, Theater werden leer gespielt, ganze Generationen Abonennt*innen in die Flucht geschlagen, wenn die Intendant*innen nicht das vollständige Abonnementsystem gleich mit der Wurzel ausreißen.

Schauspiel 10 | Regietheater
  • 27. Dezember 2019

10 | Regietheater

Wäre das ein Lehrbuch für Dramaturgie, sollte ich der Systematik halber nun vielleicht auf Fassungen von ganz normalen Stücken eingehen. Also Textfassungen, welche nicht aus Romanen destilliert wurden, sondern aus schon fertig vorliegenden Dramentexten.

Schauspiel 9 | Aristoteles und Stadelmaier
  • 17. Dezember 2019

9 | Aristoteles und Stadelmaier

Hintergründig haben Sie es wahrgenommen: Romanbearbeitungen auf der Bühne sind ein Reizthema. Dabei haben wir gelernt, dass Regisseur*innen durchaus Argumente kennen, sich lieber einen Bestseller der Prosaliteratur vorzuknöpfen als einen Klassiker des Dramenkanons.

Schauspiel 7 | Romanbearbeitungen
  • 2. Dezember 2019

7 | Romanbearbeitungen

Liebe kommt am besten von zwei Seiten. Und so liebten die Theater der vergangenen Jahrzehnte nicht allein, wenn Regisseur*innen berühmte Romantitel verwursteten, die Regisseur*innen taten das, wie es aussah, auch ganz gern.

Schauspiel 5 | Die sogenannte Fassung
  • 18. November 2019

5 | Die sogenannte Fassung

In den letzten Teilen dieses Blogs habe ich versucht herauszuarbeiten, inwiefern Stück-Besetzung und Verhandlungen über die Besetzungen heute einen großen Teil der Arbeit der Theaterleitungen ausmachen, und wie diese Arbeit durch Veränderungen im System der Stadttheater mehr geworden ist.

Schauspiel 4 | Lufthansa
  • 11. November 2019

4 | Lufthansa

Nachdem ich in Teil 3 versuchte zu verdeutlichen, welchen Unterschied für die Besetzungsarbeit der Übergang des Stadttheaters vom Betrieb mit „Hausregisseur*innen“ zum Betrieb mit Gastregisseur*innen macht (und die Besetzungsarbeit macht laut Peter Zadek an der Inszenierungsarbeit 90 Prozent aus), möchte ich heute einen kleinen Exkurs zu diesem Thema machen.

Schauspiel WAS IST EIGENTLICH EIN DRAMATURG?
  • 21. Oktober 2019

WAS IST EIGENTLICH EIN DRAMATURG?

Die Frage, die mir wohl am häufigsten gestellt wird (und die ich normalerweise nicht beantworten kann) lautet: „Was macht eigentlich ein Dramaturg?“ Oder noch profunder: „Was ist eigentlich ein Dramaturg?“ Und diese Frage wird nicht nur mit Unterton (dem Unterton von „Braucht’s die überhaupt?“) gestellt.