41 | Die ungeschriebenen Gesetze

WasmachenDramaturg:innen?

Wer die beliebten Mafiaserien Der Pate oder Die Sopranos kennt, dem dürfte die Bedeutung der ungeschriebenen Gesetze innerhalb der darin portraitierten Organisationen aufgefallen sein. In beiden Serien tritt eine Figur im Rang des sogenannten Consigliere auf, deren alleinige Funktion es ist, Berater des Familienoberhaupts zu sein (in der Mafia geht’s ja immer um Familie) und als solcher Interpret und Kenner ebenjener ungeschriebenen Gesetze.

Dieweil im Paten eher die Figur des Consigliere (Tom Hagen, gespielt von Robert Duvall) einen starken Eindruck hinterlässt, das Gesetz, für das er eintritt, der Betrachter:in jedoch weitgehend dunkel bleibt, stellen sich Die Sopranos im Laufe von sechs Staffeln als ein wirkliches Kompendium dieser ungeschriebenen Regeln und ihrer Bedeutungen heraus. Zwar agiert auch hier ein Consigliere (Steven Van Zandt als Silvio Dante), allerdings sehen wir ihn nicht immer nur in unbeobachteten Momenten unauffällig in das Ohr des Don flüstern, wie seinen Kollegen Hagen, sondern Auslegung und Diskussion der ungeschriebenen Gesetze sind zentraler Teil der ganzen Seriendramaturgie. Dauernd wird – oft über Episoden weg – erörtert und gestritten, welche Regel in einem bestimmten Falle angewendet werden muss, was sie bedeutet und vor allem: welche Regel Vorrang hat, wenn eine andere ebenfalls angewendet werden könnte. Sogar das Ende von Tony Soprano (Achtung, Spoiler!) ergibt sich aus solch einem Streitfall in der Auslegung: nämlich aus der Frage, ob die Sopranos in New Jersey eigentlich eine eigene Familie darstellen oder nur die Unterabteilung einer New Yorker Familie – im letzteren Fall hätte Tony seine Ansprüche im Lauf der Serie bei Weitem überreizt. Trotzdem verstehen wir, dass selbst in der blutigen Kultur dieser Gesellschaft, deren Richtwert die Familienehre ist, die ungeschriebenen Gesetze helfen, Einvernehmlichkeit zwischen streitenden Familien und Familienmitgliedern zu schaffen, selbst wenn dafür eine der Parteien ihren Eigennutz hintanstellen muss. Damit die Regeln solch humanisierende Wirkung allerdings entfalten können, braucht es – da sie nirgends aufgeschrieben sind – ein Netzwerk von Eingeweihten, eben die Consiglieri, die das ungeschriebene Gesetz bewahren und weitertragen. Aber warum ist es „ungeschrieben“?

Nun sind wir weit davon entfernt, die hier erwähnte ehrenwerte Gesellschaft mit dem deutschsprachigen Stadttheater zu vergleichen. Aber auch an diesem gibt es ungeschriebene Codes, deren Kenntnis selbst den Dramaturg:innen nur im Laufe vieler Dramaturg:innenjahre zuteilwird. (Weshalb, um es gleich vorwegzunehmen, den Dramaturg:innen auch nicht notwendig jene Stabsfunktion der Chefberater:in zufällt, andere, an Dienstjahren weiter fortgeschrittene Kolleg:innen kommen dafür ebenso in Frage.)

Zu den ungeschrieben Gesetzen im Theater zählen zunächst einmal all jene magischen und abergläubischen, in bestimmten Fällen auch sachlich motivierten ungeschriebenen Regeln, von denen jede:r schon gehört hat, wie: Du sollst nicht im Theater pfeifen, du sollst nicht auf der Bühne essen, du sollst auch keine Requisiten essen und die Hospitant:innen nicht ausbeuten, du sollst nicht vor der Premiere applaudieren, aber kurz vor der Premiere die Kolleg:innen anspucken, allerdings über die linke Schulter, und am Abend der Premiere, nach der Vorstellung, sollst du den Mitwirkenden Lob, aber keine Kritik spenden.

Wie bei allen alten heiligen Gesetzen ahnt man jene Mischung von Wahnsinn und Weisheit, die ihnen innewohnt. (Was das mit dem Spucken soll, steht in der Fußnote.*)

Dann gibt es Gesetze, die nicht einmal ausgesprochen werden, weil sie im Theateralltag so präsent sind, dass ein Mensch mit Ohren und Augen ihre Wirkung gar nicht übersehen kann. (Aber natürlich gibt es auch diesen Fall.) Zum Beispiel: Wenn du ein:e Schauspieler:in bist, versuche nicht, deine Kolleg:innen zu inszenieren. – Mache dich auch nicht bei der Regie Liebkind, um die Kolleg:innen auf dem Umweg einer Einwirkung auf die Regisseur:in zu inszenieren! Eine Regel, die sich unmittelbar von den manifesten Strukturen ableitet: Die Tatsache, dass es überhaupt so etwas wie Regie gibt, deutet bereits an, wie sehr unser Theater davon abhängt, dass Schauspieler:innen sich nicht gegenseitig inszenieren. Wohlgemerkt: Unser Theater. Sagenhaft und schauervoll der Gedanke an die Urzeit, in der ein Schauspieler – zumeist der sogenannte Prinzipal – seine Kolleg:innen ins Spiel einwies. (Die Idee entspricht dem Freudschen Konzept von der Urhorde, die von einem männlichen Tyrannen regiert wird, bis ein kollektiver Vatermord die Zivilisation begründet.)

Allerdings muss man diese Regel gar nicht kennen oder sie verstehen, um sie zu befolgen: Zuwiderhandlungen werden unverzüglich sanktioniert. Daher braucht es auch keinen Druidenmund, der sie in das nächste Druidenohr hineinflüstert.

Dergleichen wird hingegen fällig in Situationen, die im Theater nicht alltäglich sind und nicht durch Verträge oder BGB geregelt werden. Machen wir ein Beispiel: Ein Ensemblemitglied eines Stadttheaters bittet um die Freistellung von einer Produktion, weil es in derselben Zeit in einer Inszenierung eines benachbarten Theaters bei einer befreundeten Regisseurin eine tolle Rolle spielen könnte. Der Schauspieler will demnach für eine begrenzte Zeit von seinen Verpflichtungen als Festangestellter freigestellt werden, ohne den Vertrag insgesamt zu lösen. Die Theaterleiterin, die er um dies Entgegenkommen bittet, ist nun vertraglich nicht verpflichtet, ihm in dieser Sache zu willfahren. Allerdings wäre die Rolle, die er in dem anderen Theater spielen kann, eine bessere als die, die ihm sein Mutterhaus aktuell anbietet, und: das Mutterhaus ist in der Lage, die Besetzungslücke ohne Mehrkosten aus dem eigenen Ensemble nachzubesetzen. Nun wird es, nach den ungeschriebenen Gesetzen, schwer, dem Schauspieler die Bitte auszuschlagen. Allerdings muss die Rolle, die der Schauspieler im Ensemble seines Mutterhauses spielen sollte, nun von einem anderen Schauspieler übernommen werden. Die Rolle ist nicht schlecht, sagen wir: mittelgut, allerdings kann der Kollege, der nun einspringen muss, darum seinerseits in einem anderen Stück eine größere Rolle als die, die er einspringender Weise spielen soll, nicht spielen. So lang kein Steuergeld verschwendet wird, will jede Theaterleiter:in ihren Schauspieler:innen ermöglichen, die besten Rollen, die ihnen angeboten werden, auch zu spielen. In diesem Fall stehen zwei gute Rollen für zwei verschiedene Schauspieler gegeneinander. Nur einer kann die ihm angebotene bessere Rolle haben. Der Consigliere würde nun zwei Dinge fragen: 1.) Welche von den beiden besseren Rollen ist besser im Vergleich zu der anderen besseren Rolle (und welcher Verlust eines der beiden Kollegen wäre demnach der größere)? Sagen wir, die bessere Rolle wäre die für unseren ersten Schauspieler in dem benachbarten Theater, sein Verlust wäre also größer als der des Kollegen, der im eigenen Theater aus der einen Produktion in die andere wechseln müsste. Die Nadel schlägt in seine Richtung aus. Kommt die zweite Frage: 2.) Welcher Anspruch basiert stärker auf vertraglich eingegangen Verpflichtungen? Das ist eindeutig der Anspruch des zweiten Schauspielers, der innerhalb zweier hauseigener Produktionen die, wenn auch nur etwas bessere Rolle spielen möchte statt der nicht genauso guten anderen. Die Nadel schlägt zu Gunsten des zweiten Schauspielers aus. Trotzdem wird unsere Theaterleiterin nicht glücklich sein und ihren Consigliere fragen: Gibt es keinen anderen Ausweg? Und gemeinsam kämen sie dann zu dem Schluss: Lass uns in unserem Ensemble einen dritten Kollegen finden, dessen nächste Rolle nicht seine Traumrolle ist, lass uns diese Rolle aus dem Stück, in dem sie der Kollege hätte spielen sollen, streichen, lass uns ihm stattdessen die Rolle in der Produktion geben, die eine Ersatzbesetzung braucht, und lass uns alle drei Schauspieler zufriedenstellen.

Na gut, ein schönes Beispiel, noch dazu mit einem Happy End für alle Betroffenen.

Ähnliche Abwägungen finden statt in Fällen, in denen ein Theater direkt mit dem anderen verhandeln muss, weil beide Häuser Verabredungen mit denselben Künstler:innen haben. Dann gibt es Verhandlungen zwischen Theaterleiter:innen und Gastkünstler:innen, beispielsweise Regisseur:innen, von denen mehrere zur selben Zeit dieselben Schauspieler:innen besetzen wollen. Es gibt Verhandlungen zwischen den Theatern, innerhalb von Theatern und zwischen Theatern und freien Künstlern: Und immer helfen unsere ungeschriebenen Gesetze zu bestimmen, wer was fordern darf und wem was gewährt werden muss. Dabei geht es zuerst darum, den größten gemeinsamen Nutzen zu erzielen, und wenn der sich zwischen den Parteien nicht gleichmäßig verteilen lässt, wird stattdessen wenigstens größtmögliche Gerechtigkeit gesucht. Und wenn auch die nicht möglich ist, gibt die älteste Verabredung den Ausschlag, denn was immer die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln nahelegen: Versprechen und Verabredungen sind im Theater heilig und dürfen nicht angetastet werden. (Man kann sie höchstens umwandeln, und das wird teuer.)

Bei der Mafia hat die Tatsache, dass die Gesetze ungeschrieben sind eine doppelte Funktion: einerseits erzeugen sie keinen Papierkrieg, der ermittelnden Behörden in die Hände spielen könnte. Zweitens können sie, weil sie nicht in Schriftform vorliegen, nicht so leicht geändert werden. Zwar sind sie der Ungenauigkeit der Erinnerung unterworfen (und da kommt durchaus ein gewisser Drift zum Tragen), andererseits sind sie in der Vorstellung ihrer Benutzer:innen ewig, was – so paradox es klingen mag – mit ihrer Immaterialität zusammenhängt. Da es keine Schriftform gibt, existiert auch kein legislatives Organ, das Novellen vornehmen kann – außer der Zeit. Und die ist unerbittlich, aber langsam.

Was wir heute ausgelassen haben, sind die ungeschriebenen Gesetze der Theaterästhetik, wie „Den König spielen immer die anderen“, „Schnell ist langsam, langsam ist schnell“, usw. Die kommen bald, aber ein andermal.

 

*Und noch zum Thema Anspucken: Es handelt sich um einen Brauch aus heidnischer Zeit. Die Menschen glaubten, dass die Toten unsichtbar unter ihnen wandeln und die Lebenden beneiden. Dinge und Projekte, die den Lebenden besonders wertvoll waren, wurden von den Toten aus Neid verdorben. War einem etwas besonders wichtig, versuchte er, die Toten darüber zu täuschen, indem er darauf spuckte, trat oder es verfluchte. Dasselbe machen die Theaterleute vor ihren Premieren.

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