40 | On the Road

WasmachenDramaturg:innen?

Als der Autor dieser Zeilen ein junger Mensch war und seine Heimatstadt verlassen musste, um im kalten Hamburg zu studieren (es hatte irgendetwas mit Theater zu tun), gab es noch kein Internet und Studentenwohnungen fand man durch Beziehungen, die AStA-Wohnungsvermittlung oder durch Kleinanzeigen in der Zeitung.

Für meine Beziehungen war Hamburg zu weit weg. Ich fuhr also dorthin, ließ mich in einer Jugendherberge nieder und ging morgens früh ans Kiosk, um die Wohnungsangebote zu studieren. In den Kleinanzeigen standen dann tatsächlich Telefonnummern, die man wählen konnte, wenn die angebotene Wohnung in Betracht zu kommen schien. Diese Nummern waren nur den ganzen Tag besetzt oder es hob niemand ab. Die AStA wiederum hatte so wenige Wohnungen zu vermitteln, dass die drei oder vier Telefonnummern jeden Morgen um 9 Uhr unter 40 Wartenden verlost wurden. Da die Höchstdauer der Aufenthalte in der romantisch über dem Hafen gelegenen Jugendherberge begrenzt war, musste ich nach fünf Tagen in eine andere Jugendherberge übersiedeln, die sich für mein damaliges Gefühl in einem gesichtslosen Vorort dieser ohnehin schon abweisenden, nordischen Millionenstadt befand. In einem Sechs-Bett-Zimmer, in dem zwei junge Italiener gerade ihre Rucksäcke auspackten, ereilte mich eine Attacke von Heimweh und Verlorenheit. Die beiden Italiener waren rührende Personen und fragten, was mir fehle. Und ich sagte so etwas wie: Ich möchte zum Theater gehen, aber dieses ständige Herumreisen und die fremden Städte halte ich nicht aus. Die Italiener schienen eine Vorstellung von der Theaterwelt zu haben, schauten sich kurz an, schwiegen, dann sagte der eine: „This is going to be complicated.“

Dramaturg:innen müssen reisen. Oft. Vor dreißig Jahren hätte man gesagt: Regisseure fahren mit dem Sportwagen, Dramaturgen mit dem Zug. Die Dramaturg:innen (jetzt gegendert) fahren noch immer mit dem Zug. Aber wohin? Ein wesentlicher Teil der Profession der Dramaturg:in liegt in der Verfolgung dessen, was auf dem Theatermarkt geschieht außerhalb des eigenen Theaters. Und wo befindet sich dieser Theatermarkt? Genau: Überall, wo es Menschen gibt. Die Kunst besteht also weniger darin, den Theatermarkt zu finden, als zu wissen, wie man die Ressource der eigenen Aufmerksamkeit und Mobilität darin verteilt. In einfacherer Sprache: Man braucht eine Methode, um herauszufinden, wo man nicht hin muss. So einfach ist das nämlich gar nicht.

In vielen Theatern ist der Dramaturgieflur mit den Monatsspielplänen anderer Theater geschmückt. Wenn die Dramaturg:in morgens zu ihrem Büro will, muss sie erst einmal an Spalieren von Kalendarien vorbei, die leicht im Wind vorbeieilender Mitarbeiter:innen wehen. Kommt die Dramaturg:in früh um neun an ihren Schreibtisch, war meist schon die Hauspost da, welche Briefe, Postkarten, Festivalkataloge – kurz Einladungen – abgeworfen hat, die geöffnet, einmal hin und her gewendet oder mit der Daumenkinomethode durchgeblättert und dann ins Regal gestellt werden. Etwas Ähnliches gilt beim Einschalten des Computers bzw. dem Öffnen des Mailprogramms. Auch hier: Einladungen, Erinnerungen an Einladungen, Programmhinweise. Noch schlimmer, wenn die Dramaturg:in einen Social Media Account besitzt. Da leuchtet gleich der Button auf: Bist du interessiert an dem Event? Willst du daran teilnehmen? Wie viele Personen? Und natürlich darf die Dramaturg:in all die Einladungen nicht einfach ins Altpapier werfen oder löschen. Vermutlich wird sie erst einmal die Einladungen zu theatralischen Veranstaltungen von allen anderen (zu Ausstellungen, Lesungen, Wochenend-Retreats) trennen und die beiden Haufen in zwei verschiedene Regale stopfen. Nebenbei kann sie herausfiltern, welche Einladungen von persönlichen Bekannten kommen und womöglich einer Reaktion (Absage, Dank, weiß nicht) bedürfen. Und dann gibt es die sogenannten Netzwerke: dramaturgische Gesellschaften, Netzwerksgruppen von Theatern, Interessen- und Aktionsgruppen, die alle Treffen, Jahrestreffen oder Konferenzen abhalten, von denen unsere Dramaturg:in – da sie Mitglied aller dieser Gruppen ist – gar nicht einfach unentschuldigt fernbleiben kann.

Es gibt zwei Gründe zu verreisen: einerseits, um Aufführungen zu besuchen, Regisseur:innen, Schauspieler:innen kennenzulernen, andererseits zur Vernetzung: Leute treffen, Kooperationen einfädeln. Beides findet stets im Auftrag des Theaters statt, an dem die Dramaturg:in engagiert ist. Selbst wenn sie das Reiseziel oder die Zielpersonen manchmal nach persönlichen Kriterien auswählt. Die vorangegangene Beschreibung der Flut von Einladungen, denen unsere Dramaturg:in sich täglich gegenüber sieht, macht vielleicht verständlich, wie es dazu kommt.

Endlich wird ein Dienstreiseantrag verfasst (Wer? Wann? Wohin? Warum? Abfahrtszeiten, Aufenthaltsadressen), und ab geht die Post. Nun unterscheiden sich die Arten des Reisens genauso wie die Zielorte. Festival- und Burgtheater-Dramaturg:innen werden weiter reisen, mit dem Flugzeug und in schöneren Hotels absteigen, Dramaturg:innen von kleineren Theatern reisen häufig weniger weit, mit dem Zug und übernachten AirBnB. Das Tolle an Theaterkonferenzen ist darum, dass das Hotel meist vom Veranstalter vorgeschlagen wird, und da dort dann auch ein großer Teil des Networkings stattfindet (nach den Vorstellungen an der Hotelbar und morgens beim Frühstück), kann die Dramaturg:in ihrer Theaterleitung klarmachen, warum es nötig ist, in so einem edlen Hotel – vielleicht mit Aussicht – abzusteigen.

Während die Flut der Einladungen und Veranstaltungen immer weiter anschwillt, wird zugleich immer deutlicher gefragt, ob die ganze Reiserei denn nötig ist, in Anbetracht der Emissionen, welche sie erzeugt. Schließlich könne man Theater ja auch streamen, deutsch: auf Video anschauen. Müsse man denn da immer in eine andere Stadt fahren? Der Präsident eines europäischen Theaternetzwerks antwortete auf diese Frage kürzlich (streng genommen war die Frage etwas anders, nämlich: Ob man denn noch Konferenzen machen sollte, man könne ja auch Zoom-Meetings veranstalten), also jedenfalls zum Thema „Reisen oder Internet?“ sprach der Präsident: Es sei ja noch gar nicht erwiesen, ob das Internet nicht ebenso viel CO2 produziert wie die Flugzeuge, mit denen die Dramaturg:innen und Theaterleiter:innen zu seiner Konferenz anreisten. Vor lauter Schreck verlinkten seine Mitarbeiter:innen bei der nächsten Konferenz die Einladungsemail mit der Website eines CO2-Rechners, auf der die Dramaturg:innen, die sich zu der Konferenz anmelden wollten, zuerst ausrechnen mussten, wie viele Emissionen ihre Reise produziert, und danach aufgefordert wurden, eine Kompensationszahlung zu leisten.

Während die Frage der Notwendigkeit des Reisens zu den vielen Netzwerktreffen weiterhin im Raum steht, würde ich bei Reisen wegen Vorstellungsbesuchen, also dem Besuch anderer Theater, dazu neigen zu behaupten, dass Inszenierungen sich auf Video oder im Stream nur schlecht bewerten lassen. Es gibt wunderbare Aufführungen, von denen in Videoaufzeichnungen nicht viel übrigblieb. Und sogar das Gegenteil soll schon vorgekommen sein. Vollends infam wäre die Idee, Schauspieler:innen nach Videoaufzeichnungen zu beurteilen. Darum hat man diesen Vorschlag auch noch nie gehört.

Kurz zur Erklärung: Die meisten Videoaufzeichnungen von Theateraufführungen werden zu internen Zwecken angefertigt, es handelt sich dabei nicht um solche Aufzeichnungen, die man aus dem Fernsehen kennt, sondern um den „Mitschnitt in einem Take“, von einer feststehenden Kamera, deren Bildausschnitt das ganze Bühnenportal einfängt. Je nach Größe des Theaters sind die Schauspieler darin dann daumengroß zu sehen. Der Aufwand „richtige“, fernsehartige Mitschnitte zu machen, ist für die Theater so groß (und teuer), dass er nur bei eindeutigen Anlässen getrieben werden kann. (Nehmen wir die Pandemie.) Und selbst was dabei dann herauskommt, ist meist nicht so schön wie die ursprüngliche Theateraufführung.

Am Ende muss die Dramaturg:in also wieder in den Zug steigen und in eine andere Stadt fahren.

Die Vorahnung auf diese Art von Dienstreisen wird es aber nicht gewesen sein, die mein junges Ich damals im Sechs-Bett-Zimmer eingeschüchtert hat. Eher jener Zustand allgemeiner Unbehaustheit der Dramaturg:in, der weniger mit Dienstreisen als mit der zeitlichen Begrenztheit ihres Engagements an einem Ort zu tun hat. Er mahnt wohl an die Flüchtigkeit allen Seins in dieser Welt. Und muss in einer eigenen Blogfolge vorgenommen werden.

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