Aber lassen wir diese Projekt-Entwicklungs-Fassungen hier außen vor und konzentrieren wir uns noch einmal auf die Fassungen „normaler“ Stücke. Da hatten wir in Hinsicht auf die Klassiker letzte Woche vier Hauptgründe gefunden, warum Stücke eigentlich „gefasst“ werden, nämlich Dauer, Sprachbehandlung, Inhalt und Verständlichkeit. Es gibt allerdings noch ein weiteres Element jeder Theaterarbeit, das intensiv mit der Fassung und ihrer Entstehung wechselwirkt: die Besetzung. Klar, heute sind Ensembles in der Regel kleiner als vor 150 Jahren, darum können sehr personenreiche Klassiker heute nicht mehr „durchbesetzt“, sondern müssen passend gemacht werden. („Don Carlos?“ – „Spielt mein Sohn.“ – „Philipp?“ – „Spiele ich.“ – „Marquis von Posa?“ – „Gestrichen!“) Figuren werden vollständig gestrichen oder mit anderen Figuren zusammengelegt. Dabei wird aus zwei Figuren eine, manchmal spielt ein Schauspieler zwei (oder mehr) verschiedene Charaktere, was für die Fassungsmacher unter anderem bedeutet, ein besonderes Augenmerk darauf richten zu müssen, dass unterschiedliche Figuren, die vom selben Darsteller gespielt werden, nicht gleichzeitig erscheinen können. Die Kunst der kleineren Besetzung verselbständigte sich irgendwann so sehr, dass auch Rollenpaare zusammengelegt wurden, nicht weil das besonders naheliegend schien, sondern eher weil das Gegenteil der Fall war: Faust/Mephisto, Hamlet/Geist von Hamlets Vater, Maria Stuart/Königin Elisabeth sind Beispiele für solche scheinbar widersinnigen Zusammenlegungen, die offenbar den Sinn haben, die Zuschauer:innen mit der Nase auf den Kunstgriff zu stoßen. Meist steht der dann im Zusammenhang mit einer besonderen Schauspieler:in, von der man sich versprochen haben mag, dass sie in solcher Doppelhauptrolle umso mehr brillieren würde. Auf der anderen Seite bleibt natürlich festzuhalten, dass auf diese Weise eine dankbare und schöne Rolle für einen Kollegen aufgeopfert wurde. Waren die kanonischen Besetzungen aber durch die aufgezählten Tricks erst einmal alle eingedampft und zurechtgeschrumpft, konnte das Spiel auch in die andere Richtung gespielt werden: Vergrößerung von Besetzungen durch Vervielfachung wichtiger Rollen, wie 3 Fausts, 8 Gretchen, 10 Peer Gynt.
Dabei habe ich bis jetzt nur den arithmetischen Zusammenhang zwischen Fassung und Besetzung betont. Mindestens so wichtig, wenn nicht wichtiger, ist der inhaltliche: Besetzungen meinen ja die darstellenden Künstler:innen. Darum fällt bei der Bearbeitung der Rollen durch Kürzungen oder Vergrößerungen (auch die gibt’s, wie man heuer wieder bei der Buhlschaft im Salzburger Jedermann bewundern konnte), bei der Bearbeitung der Rollen fällt also ins Gewicht, wie bestimmte Spieler:innen – und zwar schon in der Vorstellung der Fassung-Macher:innen – in bestimmten Rollen wirken und agieren werden, welche Schwerpunkte sich für die Lesart eines Stücks daraus ergeben. Denn wie sprach schon Peter Zadek: 90 Prozent der Arbeit eines Regisseurs ist die Besetzung. In der Theorie entsteht die Fassung nun nach der Besetzung. In der Stadttheaterpraxis ist die Reihenfolge manchmal umgekehrt oder beides passiert gleichzeitig. Klar ist, dass Fassung und Besetzung die zwei wichtigsten Interventionen durch Regie und Dramaturgie in den Stücktext darstellen. Entsprechend sind sie nicht zu trennen voneinander.
Man kann sehen, wie der Trend beim Einrichten von Fassungen heute immer mehr in Richtung ähnlich großer Rollenaufgaben geht, weg von den hierarchischen Besetzungen, wie sie insbesondere für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts typisch sind. Da wimmeln die Theatertexte nur so von Dienstboten, Passanten, Hinterbänkler:innen, die zwar oft nur ein paar Sätze haben, aber gar nicht mal so leicht gestrichen werden können. In früheren Jahrhunderten gab es dafür die berühmten Chargenspieler, ein durchaus ehrbarer Beruf, heute ist das Wort im Theaterkontext allerdings eine Beleidigung. Nur: Wie macht man aus drei kleinen eine große Rolle? Gar nicht. Aber gerade an den neueren Inszenierungsstilen können wir erkennen, dass junge Regisseur:innen sich mit dieser Frage zunehmend beschäftigen. Dabei entstehen mitunter ganz neue Figuren, die die Erzählung transportieren und oft genug auch noch auf einer Metaebene kommentieren. Häufig stößt man heute auf so etwas wie „Erzählteams“, also Stückensembles, welche die Erzählung eines Stücks gemeinsam angehen und bei denen eine Art von Gleichberechtigung in dieser Arbeit zu erkennen ist. Selbst Hauptrollen werden unter den Schauspieler:innen hin und hergereicht. Dabei mag die Abschaffung der Hierarchie und die Gemeinsamkeit des Unterfangens den zentralen Punkt darstellen.
Aber auch für ganz konventionelle Stückaufführungen und Rollenverteilungen wird heftig an den Text- und Spielanteilen rumgebogen, sogar in weniger modernen Aufführungen. Das Beispiel Jedermann habe ich bereits angesprochen. In der aktuellen Salzburger Inszenierung wird die Rolle der Buhlschaft, die ja immer schon erschreckend klein (und darüber hinaus: negativ) war, durch Textanteile anderer Figuren, aber auch der Hauptrolle, angereichert und natürlich umgeschrieben. Die im Stück zentrale Szene ihrer Flucht vor der Erscheinung des Todes, mit der die Buhlschaft traditionellerweise in der Mitte der Handlung abgeht, ist gestrichen. Der naheliegende Grund: In Hofmannsthals Version ist die Buhlschaft eine ungetreue Liebhaberin (darum heißt sie Buhlschaft), deren Falschheit sich ultimativ im Angesicht des Todes zeigt. Der Jedermann, die andere Hälfte dieses Liebespaars, wird deutlich ausgewogener dargestellt – für moderne Zuschauer:innen leicht als misogyn zu erkennen. Durch den gestrichenen Abgang in der Mitte des Stücks bleibt die Buhlschaft länger auf der Szene und wird auch dadurch aufgewertet.
Diese Art von Chirurgie am Stücktext wirkt heute aber mehr wie ein Spagat zwischen traditioneller Ästhetik und modernem Anspruch. Formal zeitgemäßer ist das oben erwähnte Verfahren, in dem die Stückerzählung insgesamt mit Mitteln eines epischen Theaters unter den Schauspieler:innen vergemeinschaftet wird. Das Formvokabular dieser Vergemeinschaftung hat sich wiederum nicht zuletzt an jener Welle von Roman- und Filmadaptionen geschärft, die im deutschsprachigen Stadttheater seit etwa zwei Jahrzehnten rollt. Hier kommt ja meist auch noch hinzu, dass neben typischen Film-Nebenrollen, die vielleicht nur einmal im Stück auftreten, dann aber einen zentralen Satz zu sagen haben, auch noch Erzähltexte bewältigt werden müssen, die gar nicht dialogisch, psychologisch oder eigentlich dramatisch sind.
Spätestens dann – wenn eine Landschaftsbeschreibung à la Karl May vorgespielt zu werden hat – spielen die Spieler:innen nicht mehr Rollenfiguren sondern werden zu Erzählern.
Und hier stoßen wir endlich in das Feld der Postdramatik und der „Textflächen“ vor. Wir erinnern uns: Erfunden von Elfriede Jelinek, stellt die „Textfläche“ einen Theatertext dar, der gar keine Rollenzuschreibung mehr kennt, daher „Fläche“ genannt, weil das Textbuch vom Schriftbild her eher wie Romanseiten aussieht. Ein großer, langer Wortschwall, aus dem Regie und Spieler:innen sich bedienen können. Denn auch (und gerade) die Textfläche muss natürlich „gefasst“ werden. Insbesondere, da schon ihre Erfinderin, Elfriede Jelinek, meist Textflächen epischen Ausmaßes erzeugt, oft zwischen 150 oder 180 Seiten lang. In der Frühzeit dieser Textflächen wurden diese gern als Monologtexte verstanden, so dass nur eine Schaupieler:in besetzt wurde. Inszwischen aber wurden Textflächen als das perfekte Futter für die oben angesprochenen „Erzählteams“ identifiziert. Da besonders Jelineks Textflächen aber ebenso monologisch sind wie polyphon, werden die „Erzählteams“ dann zu einer Art von Chor, der sowohl mit einer Stimme sprechen kann als auch als Gruppe von Individuen. Und aus dieser uralten Theaterform schöpft sie ihre große (anfangs häufig unerkannte) Vitalität.