32 | Programmhefteschreiben

WasmachenDramaturg:innen?

Nahm man vor 30 Jahren das Programmheft einer Stadttheaterinszenierung in die Hand, dann wog dies in der Regel etwas schwerer als ein heutiges Programmheft, war weniger bunt und ein großer Teil der darin enthaltenen Texte stammte von französischen Philosophen (männlich), die der Schule des Poststrukturalismus zugerechnet werden konnten. Also Namen wie Baudrillard, Deleuze, Derrida und Žižek. Irgendwo fand sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein gedichtartig gesetztes Zitat aus dem Buch Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes. Wir reden hier übrigens nicht von den Programmheften einer bestimmten Art oder eines bestimmten Genres von Sprechtheater, sondern von Programmheften deutschsprachigen Sprechtheaters im Allgemeinen.

Neben den „kleinen“ Heften, die von deutschen Stadttheatern von der Metropole bis in die Provinz zu ihren Aufführungen angeboten wurden, gab es noch eine Art „großer“ Programmhefte, die nur eine Handvoll von Theatern fabrizierte (darunter die Berliner Schaubühne und das Wiener Burgtheater), die, bei einer Seitenzahl von ungefähr 200 anfangend, so etwas wie ein germanistisches Seminar mit Materialien, Sekundärtexten und Dokumenten zu Stück und Autor vorlegten (nennen wir es: einen Reader), in dessen Besitz die Zuschauer:in sich sicher sein konnte, hier all das zu finden, was sie in ihrem Theatergänger:innenleben je über den Autor und das Stück zu wissen wünschen konnte.

Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Erstens sind die Druckereien in Österreich und Deutschland schneller in der Produktion geworden, weshalb es vielen Stadttheatern möglich ist, schöne Fotos, die den originalen Look einer Inszenierung wiedergeben, in ihren Programmheften zu drucken. Vor einigen Jahrzehnten war das noch nicht möglich, weil die Produktion eines Programmhefts so lang dauerte, dass die Hefte, die ja zur Premiere vorliegen mussten, nur Bilder eines früheren Entwicklungsstands der Inszenierung zeigen konnten, auf dem aber die richtigen Kostüme, Maske, Bühnenbild und schönes Licht, die in der Produktion erst in den Endproben hinzukommen, fehlten. Die Probenfotos in den Heften waren, wenn sie überhaupt verwendet wurden, nicht so prächtig.  Darum waren sie meistens auch nicht bunt (was teurer war) oder es wurde insgesamt auf sie verzichtet. (In der Schweiz werden übrigens bis heute kaum Aufführungsfotos in Programmheften verwendet. Zwar sind auch dort die Druckmaschinen schneller geworden, aber die tariflichen Bestimmungen im Druckgewerbe verhindern eine genauso schnelle Produktion, wie sie in Österreich und Deutschland möglich ist.)

Die Hefte selbst waren dafür gerne dicker, denn die Produktionskosten waren geringer als in späteren Jahrzehnten. Und die Theater waren reicher.

Was die Textauswahl betrifft, kann man den Unterschied in der Programmheftekultur nur verstehen, wenn man sich den Unterschied des deutschen Sprechtheaters der 80er und 90er Jahre zum heutigen Theater vergegenwärtigt. Die Theater hatten damals wohl schon einen Knick in den Besucherzahlen verzeichnet, weitherum hatte sich ihrerseits jedoch noch keine starke Reaktion auf die Müdigkeit ihrer Besucher:innen herausgebildet. Auch die Theatersubventionen waren noch deutlich höher als in späteren Jahren. Man befand sich noch auf der Höhe eines relativ luxuriösen, manchmal elitären Regietheaters, dessen Anführer sich nicht ernsthaft Gedanken machten, ob auch meine Großeltern verstanden, welche Spiele sie da auf der Bühne trieben. Aufführungen waren gern lang, aufwändig und rästelhaft.

Die Programmhefte waren ein Dokument derselben Kultur: Sie hatten nicht vorrangig den Auftrag, ein theatralisches Ereignis zu erklären oder zu vermitteln, sondern sollten dessen künstlerisches Experiment eher beglaubigen und untermauern, auch weitere Denkanstöße geben. Leider waren sie oft nicht in der Lage, dies Gedankengut dann auch noch in die Sprache jener Theaterbenutzer:innen zu übersetzen, die kein geisteswissenschaftliches Studium absolviert hatten. Das Programmheft sollte Distinktionsgewinn verschaffen, ausweisen, dass hier etwas gedacht worden war, auch wenn nur ein kleiner Teil der Programmheftleser:innen nachvollziehen konnte, was das war. In meiner Jugend verschickte die katholische Zuschauerorganisation meiner Heimatstadt die Programmhefte des Stadttheaters mit den Eintrittskarten. Dabei legte sie den Heften einen gelben Zettel bei, auf dem der Stückinhalt zusammengefasst war. Raten Sie mal, welchen Teil der Sendung meine Eltern ins Theater mitnahmen.

Das Pendel schwang zurück. Ab den Nullerjahren begannen deutschsprachige Stadttheater spürbar, sich auf ihr Publikum zuzubewegen. Inhaltsangaben von Stücken fanden sich auf einmal nicht mehr nur auf gelben Einlegezetteln, sondern wurden in Programmhefte hineingedruckt. Auch die weiteren Texte des Programmhefts gaben häufig – spätestens bei der Lektüre – den Bezug zum Stückinhalt zu erkennen. Die dicken Reader mit literarischen Dokumenten zu Entstehung und Wirkungsgeschichte der Stücke verschwanden.

Heute fragen Dramaturg:innen sich oft sogar, wann die Theaterbesucher:innen eigentlich in das Programmheft hineinschauen und für wie lang. Sie zielen dann oft auf jene fünf Minuten, in denen die Besucher:innen schon auf ihren Plätzen sitzen und bevor das Licht ausgeht. Oder auf die Pause im Theaterabend, so es eine gibt. Welche und wieviel Information suchen die Besucher:innen in diesen Minuten, was trägt zum Verständnis des Theaterabends bei?

Hierbei ist festzuhalten, dass Dramaturg:innen früherer Generationen über einiges, was heute in Programmheften zu finden ist (Inhaltsangaben, Lebensläufe, Uraufführungsdaten) die Nase gerümpft hätten (und auch haben), dass aber auch moderne Dramaturg:innen Theateraufführungen immer noch als Kunstwerke betrachten, deren Erklärung durch die Offenheit zur Interpretation Grenzen gesetzt sind.

Was ist damit gemeint?  Immer wieder melden Zuschauer:innen sich in den Dramaturgiebüros und fragen, warum eigentlich in Einführungen und Programmheften das Bühnenbild, die Kostüme, das Regiekonzept nicht erklärt wurden. „Warum haben Sie uns nicht gesagt, was die Regenschirme in dem Bühnenbild bedeuten?“ Und die einfache Antwort auf die Frage ist: Weil meine Erklärung falsch gewesen wäre. Die Regenschirme waren da, damit Sie die Gelegenheit bekommen, sich etwas dabei zu denken. In der Offenheit zur Deutung ist auch heute noch – bei aller Vermittlungsarbeit – die Quintessenz des Regietheaters, der Kunstcharakter des Schauspiels aufbewahrt.

Anlässlich einer sehr erfolgreichen Premiere an einem anderen Theater und vor vielen Jahren wurde der Autor dieser Zeilen einmal namentlich in einer Kritik dafür gemaßregelt, dass er im Programmheft nicht ein interessantes Interview mit dem Regisseur zu seinem Regiekonzept geführt hatte. Das wäre interessanter gewesen als irgendwelche ohnehin bekannten Texte über Stück und Autor. Dem Autor dieser Zeilen schien das ungerecht, hatte er doch – hinter den Kulissen, wie es so schön heißt – ebenfalls an dem Erfolg der Aufführung mitgearbeitet. Denn Dramaturg:innen sind ja, wie wir mittlerweile wissen, nicht nur die Autor:innen und Redakteur:innen der Programmhefte. Auch kam hinzu, dass es sehr stichhaltige Gründe gab, kein Interview mit dem Regisseur über sein Konzept zu führen. Das Kunstwerk steht im Mittelpunkt. Da es im Theater ein kollektives und in einer Überlieferung wurzelndes ist, ist es mehr als das, was den lebenden Mitwirkenden (im Theater gibt es ja auch noch die nicht mehr lebenden Mitwirkenden) bewusst ist. Die Zuschauer:in hat das Privileg zu schauen und zu deuten. Diesem Privileg dient das Programmheft.

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