Fangen wir an mit der Königsdisziplin des Dramaturg:innendaseins:
dem Stückelesen.
Einerseits lesen Dramaturg:innen Stücke, deren Qualitäten in der Szene und von anderen Dramaturg:innen bereits beschrieben und erkannt wurden. Also alle Arten Klassiker und Erfolgsstücke. Die Klassiker haben die Dramaturg:innen in der Regel schon im Studium gelesen und danach ein paar Mal auf der Bühne gesehen. Darum beschränkt deren Lektüre sich vornehmlich auf die Überprüfung, welche Anwendbarkeit sie aktuell im eigenen Betrieb hätten (also: passt das Thema, die Besetzung, wollen das die Leute sehen usw.).
Und dann gibt es die Lektüre unbekannter neuer Stücke, am besten von unbekannten neuen Autor:innen. Dazu muss der/die Dramaturg:in eine Vorauswahl treffen. Unverlangt eingesandte Stücke stapeln sich schon auf dem Dramaturg:innenschreibtisch und im Dramaturg:innenpostfach. Jedes einzelne versehen mit dem Hinweis, dass gerade dieses Stück der nächste Knaller der Saison sein wird.
Dann schalten die Dramaturg:innen das Handy aus (wenn das so einfach wäre), schlagen auf bei Seite eins und befinden sich auf hoher See. Alles kann passieren, häufig passiert gar nichts und oft kommen die Lesenden sich vor wie Ismael, der Walfänger, im Ausguck der Pequod: Sie durchqueren Ozeane der Kreativität, ohne den weißen Wal zu sichten.
Alleine vor dem unbekannten Text ist es auch gar nicht immer leicht, dessen Qualitäten zu erkennen. Insbesondere, wenn man vorher schon fünf andere unbekannte Stücke gelesen hat. Warum? – Genau: weil es kein objektives Kriterium dafür gibt. Im angelsächsischen Theater, dessen Dramaturgien enger mit den Reglements der Drehbuchkunst verwandt sind, gibt es so etwas ein bisschen eher. Weil die Drehbuchkunst, ähnlich wie das Well Made Play, bestimmte eiserne, unhintergehbare Erzählstandards berücksichtigt (wie Psychologie, Logik, Spannungsbogen usw.). Das kontinentaleuropäische Sprechtheater – und vor allem das deutschsprachige Sprechtheater – hat aber genau diese festen Standards vor Jahrzehnten mit Erfolg in den Tiefen des Kurilengrabens versenkt (um bei Moby Dick zu bleiben).
Darum sollten Dramaturg:innen, die so unvorsichtig sind, als Gedächtnisstütze ihrer Lesearbeit Lektorate abzufassen, wie der Teufel darauf achten, dass sie diese niemals aus den Händen geben: Weltberühmt der Fall des Burgtheater-Dramaturgen, der einst das erste Lektorat zu Werner Schwabs Die Präsidentinnen verfasste. (Wir erinnern uns: Die Präsidentinnen sind das national und international meistgespielte, beim Publikum erfolgreichste, in Vorsprechmonologen am liebsten neuinterpretierte Stück eines modernen österreichischen Dramatikers.) Um dem verdienten Kollegen, dessen Name heute vom Burgtheater (zu Recht) geheim gehalten wird, nicht noch mehr in den Rücken zu fallen, sei nur so viel gesagt: Er konnte keine einzige der Qualitäten dieses unverlangt bei ihm eingesandten Stücks entdecken, erklärte es für das Werk eines Dilettanten (stimmte, glaube ich, sogar), für unfreiwillig komisch und (muss es noch gesagt werden?) für unaufführbar.
Wie konnte das passieren? In gewisser Hinsicht ist die Antwort einfach: Bis Werner Schwab Die Präsidentinnen verfasste, war ein Stück wie dieses wirklich unaufführbar. Selbst die Uraufführung im Wiener Künstlerhaus widerlegte die vermutete Unaufführbarkeit nicht vollständig. Aber mehr und mehr gerieten Texte Schwabs an Regisseur:innen, die deren Potential erkannten und das Publikum damit schließlich im Sturm eroberten.
Der Beispielfall enthält alle Ingredienzien des Problems: 1.) Gibt es ewig feststehende Kriterien für die Qualität eines Theatertextes? (Haben wir oben schon beantwortet: Nein.) 2.) Weiß der oder die Dramaturg:in beim Lesen, was dem Publikum gefallen wird? (Raten Sie mal.) 3.) Kann die oder der Dramaturg ermessen, was ein:e geniale:r Regisseur:in in dem Text vielleicht erkennt und auf der Bühne theatralisch machen kann? (Ahnungsweise vielleicht ja, letztlich ist aber der/die Dramaturg:in eben nicht der/die Regisseur:in.) Und schließlich: 4.) Kann der/die Dramaturg:in im Zweifelsfall allein beurteilen, ob sie oder er einen Text zum größten Teil versteht?
Was uns zu dem erkenntnistheoretischen Problem der Ignoranz führt: Von dem, was wir nicht sehen und erkennen, können wir auch nicht wissen, dass es da ist. Ohne äußere Hilfe können wir das Ausmaß unserer eigenen Ignoranz nicht bestimmen.
Alte Dramaturg:innen verlassen sich darum auf ihren Instinkt. Und sie haben Tricks. Einer davon ist, Ignoranz als Haltung zu verkaufen. Ein anderer: sich nicht erwischen lassen.
Die Lektüre von Theatertexten ist letztlich ein Fall für die Schwarmintelligenz. Je mehr Dramaturg:innen und Regisseur:innen die unbekannten Stücke lesen, desto besser werden deren Qualitäten erkannt. Dabei sind die vor- und nachgelagerten Instanzen, also die Verlage, Förderinstitute, Literaturagenten, die die Stücke vor den Dramaturg:innen zu lesen kriegen, und die Regisseur:innen, Schauspieler:innen und das Publikum, die sie nach den Dramaturg:innen zu sehen bekommen, Teil dieses Prozesses.
Alle miteinander zergliedern und verdauen die Texte und ermitteln deren Reichweite (im Sinn von öffentlicher Aufmerksamkeit und Intensität der Auseinandersetzung mit den Texten). Wohlgemerkt: In diesem ganzen Prozess werden weit mehr Texte aussortiert, vergessen, weggeworfen, als erkannt, verbreitet, heiß geliebt.
Ist dann aber der Verbreitungsgrad eines Theaterstücks zugleich das wichtigste Qualitätskriterium? Mit Blick auf unsere Klassiker dürfte es schwerfallen, diese Frage zu verneinen. Mir gefällt aber die Vorstellung, dass es unverstandene Autor:innen gibt, an deren Texten nur die Leser:innen und das Publikum gescheitert sind.