Kürzlich nahm ich an einem Workshop für mehr Sensibilität gegenüber Rassismus und Kultureller Aneignung teil. In dessen Verlauf kam es zu einer Diskussion, ob Shakespeares Othello eigentlich rassistisch sei oder genau das Gegenteil. Die Workshop-Leiterin war der Meinung „genau das Gegenteil“. Die kanonische Lesart von Othello war auch hundert Jahre lang, dass das ein Stück über Rassismus sei, das vorführt, wie ein paar ausländerfeindliche Italiener den genialen afrikanischen Feldherren Othello durch ihre Intrigen zu Fall bringen. Und ein anderes berühmtes Shakespeare-Stück, Der Kaufmann von Venedig, führe vor, wie christliche Italiener einen jüdischen Geldverleiher aus Judenhass um all sein Gut bringen. Schließlich spricht der Jude Shylock in dem Stück die berühmten Worte: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Hat nicht ein Jude Augen, Ohren, Sinne so wie ihr?“ Genau. Und trotzdem: Wäre das doch nur die ganze Wahrheit! Doch neben deutschen Dramaturg:innen und Regisseur:innen gibt es auch noch die Shakespeare-Forschung und die förderte zutage, was einzelne Beobachter der deutschsprachigen Szene (George Tabori, Fritz Kortner) längst bemerkt hatten: In besagten großen Shakespeare-Klassikern steckt nicht allein ein teilweise mittelalterliches Weltbild, sondern – leider – auch viel krude Projektion und Vorstellungen christlicher und weißer Vorherrschaft über andere Kulturen. Beim Shylock ist das sogar leicht erkennbar: Shakespeare übernimmt hier die Figur des jüdischen Bösewichts, die im Theater seiner Zeit beliebt war, und der trachtet seinen christlichen Widersachern aus Rachsucht nach dem Leben. Als sein ärgster Feind, der Christ Antonio, weil er keine Sicherheiten vorzuweisen hat, von anderen Kreditgebern kein Geld bekommt, bietet Shylock ihm einen besonders üblen Deal an: Er gewährt Antonio den benötigten Kredit, doch mit der Bedingung, dass er ihm bei dessen Ausfall nach der Fälligwerdung ein Pfund Fleisch nächst seinem Herzen aus dem Oberkörper schneiden darf. Und Antonio ist – aus Liebeskummer – verzweifelt genug, darauf einzugehen. Ist dieser Shylock eine antijüdische Erfindung? Na klar. Nun sagen die Shakespeare-Fans alter Schule: Shylock ist ja nur so böse, weil die Christen vorher böse zu ihm waren. Und das steht sogar im Text. Was aber auch im Text steht, ist, dass Shylock böser als die Christen in dem Stück ist und – im Gegensatz zu diesen – keiner altruistischen Handlung fähig. Während der Christ Antonio sein Leben für den von ihm geliebten Bassanio aufs Spiel setzt, fleht Shylock, als seine Tochter Jessica aus ihrem Elternhaus geflohen ist, zu Gott, der Herr möge ihm diese tot – und mit ihren goldenen Ohrringen in den Ohren – zu Füßen legen. Der weise Regisseur George Tabori sagte darum, um herauszufinden, was Shakespeare (oder auch ein anderer Autor) wirklich von einer Figur hält, müsse man beachten, wie sich die Figur zu denen, die sie liebt, verhält. Und das ist bei Shylock nicht sehr schön. (Tabori nannten darum sein „Kaufmann-von-Venedig“-Projekt am Wiener Schauspielhaus: „Ich wollte, meine Tochter läge tot zu meinen Füßen, und hätte die Juwelen in den Ohren!“)
Wie sieht das bei Othello aus? Da ist es ein bisschen komplizierter, weil Othello – außer dass er schließlich aus Eifersucht seine Frau Desdemona erwürgt, ohne nur eine Sekunde lang die Wahrheit all ihrer Beteuerungen zu erkennen (aber das passiert auch erst im fünften Akt) – weil also Othello bis dahin eigentlich kein schlechter Kerl ist. (Außer gegenüber seiner Frau – siehe oben: immer darauf achten, wie sich die Figur gegenüber denen, die sie liebt, verhält.) Othello ist ein instabiler Mann, der aus Eifersucht zum Mörder wird. Er kommt aus einem Land, von welchem er berichtet, dass die Menschen darin schwarz sind, Menschenfresser und verwandt mit Monstern, die die Köpfe unterhalb der Schultern tragen. Es ist ein Erdteil, in dem Gottes Schöpfung noch nicht abgeschlossen ist, in dem eine Art vorzeitliches Schöpfungs-Chaos herrscht. Auf dem Weg nach Europa hat Othello sich zwar einer geordneteren Zivilisation angepasst, doch das Chaos wohnt noch immer in ihm. Darum spricht er zu Desdemona, als noch alles gut ist: „Verdammt sei meine Seele, doch ich liebe dich! Und wenn ich dich nicht liebe, ist das Chaos wieder da.“ Er ist in Shakespeares Vorstellung ein „Wilder“, der – selbst nachdem er jahrelang in einer Uniform gesteckt hat – wenn man ihn lange genug reizt, derart ausrastet, dass sein Verstand als erstes aussetzt und als nächstes Empathie und Menschlichkeit. Nun war Shakespeare ein genialer Dramatiker, und selbst die Unholde bei ihm erfreuen sich einer raffinierten Zeichnung: Shylock schafft es, uns mit seiner Rede von der Ähnlichkeit zwischen Juden und Christen zu rühren, Othello hat so großen Charme, so dass man – bis zum dritten Akt – verstehen kann, warum Desdemona sich in ihn verliebt hat. Und gerade diese Ambivalenz in der Charakterisierung machte diese Unholde für Shakespeares Zeitgenossen faszinierend, suspendiert aber nicht die zugrunde liegende Erzählung und die Wirkkraft der darin enthaltenen Stereotype. Die Vorstellung, dass die Differenzierungen, die Shakespeare den Klischeebildern des wilden Mannes und des geld- und mordgierigen Juden mitgibt, die grundlegende Stoßrichtung dieser beiden Stücke änderte, verkennt die großen Züge der Erzählungen. Was tun, sprach Zeus? Wir fahren an dieser Stelle nächste Woche fort.