14 | Das Intendantenkarussell

WasmachenDramaturg:innen?

Ich war einmal in Schweden und besuchte den berühmten Dramaten in Stockholm, also das königliche Schauspielhaus, das bereits von Ingmar Bergman geleitet wurde.

Die Besuchergruppe wurde, bei Kaffee und Brötchen, vom ehemaligen Direktor des Theaters (nicht Ingmar Bergman) begrüßt, der zu diesem Zeitpunkt immer noch dort arbeitete, wenn auch nicht mehr als Direktor. Später kam die aktuelle Direktorin auch zum Frühstück und begrüßte noch einmal. Eine Situation, die mich im Rückblick an die beiden Päpste Franziskus und Benedikt erinnert, die unseren Planeten bekanntlich zur selben Zeit bevölkern, eine Situation, die echte Katholiken früher allenfalls an das große Glaubensschisma im 14. Jahrhundert aber eher noch an die nahende Apokalypse hätte denken lassen. Große Worte – aber: für den Insassen eines Theaterbetriebs im deutschsprachigen Raum nicht abwegig. Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Audienz bei dem Direktor des Burgtheaters, Martin Kusej, kommen in das Vorzimmer und seine Mitarbeiterin würde Ihnen sagen: Der Herr Direktor verspätet sich ein wenig, aber vielleicht haben Sie Lust, mit Herrn Matthias Hartmann noch einen Kaffee zu trinken, der sitzt ein Zimmer weiter und freut sich über Ihren Besuch. – In unserem (jetzt kommt das Wort wieder) Theatersystem ist das irgendwie schwer vorstellbar. Warum? Natürlich konnte ich die Verwunderung bei meinem Besuch am Dramaten nicht völlig verbergen und erkundigte mich, wie es dazu käme, dass der ehemalige Direktor hier immer noch als Dramaturg (oder Hausregisseur oder was weiß ich) mitarbeitete. Und die Schweden waren ganz verständnisvoll und erklärten mir, dass über die Jahrzehnte am Dramaten eigentlich immer dieselben Menschen arbeiten. Nur die Alten gingen in Pension, dafür würden Junge nachbesetzt. Die Direktor*in wechsele alle paar Jahre, komme aber stets aus dem Kollegium der ständigen Mitarbeiter*innen des Theaters, in das sie auch zurückkehre, wenn ihr Direktorat vorüber sei. Ja ja, man hatte schon gehört, dass das in Deutschland und in anderen Theaterländern anders sei. Dass dort die Direktor*innen an andere Theater weiterziehen, und mit ihnen häufig große Teile der Ensembles.

In Schweden aber gebe es kein gleich großes Theater wie den Dramaten, zwei andere kämen allenfalls noch in die Nähe – die ständen aber in ganz anderen Gegenden von Schweden – wer einmal am Dramaten sei, der wolle auch nicht wieder weg. Und welchen Sinn hätte das auch: wenn die Direktoren und die Truppen der drei größeren Theater alle fünf oder zehn Jahre eine Stadt weiter ziehen müssten, um 15 oder 20 Jahre später wieder an den Ausgangspunkt zu gelangen. Was wäre mit den Familien der Theaterschaffenden? Sollten da die Kinder immer aus der Schule genommen werden, die Partner ihre Stellen kündigen? Tja. Und genauso machen wir das in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Und das ist auch im Wesentlichen schon die Antwort auf die Frage, welche ich im letzten Teil gestellt habe: Warum sind 150 Sprechtheater, verteilt über drei Länder, nicht einfach 150 Sprechtheater, sondern ein System? Unter alledem, was diese 150 Häuser gemeinsam haben, ragt ein Element heraus: Es sind die Theaterschaffenden, die in den Häusern arbeiten, für welche die Gesamtheit dieser Schauspielhäuser einen Arbeitsmarkt darstellen und die von Haus zu Haus gehen, an jedem Ort Neues hinzulernen und an jeden Ort Neues mitbringen. Das typische Leben einer Schauspielerin/eines Schauspielers im deutschsprachigen Stadttheater führt sie/ihn von der Schauspielschule bis zur Rente mindestens durch eine Handvoll Städte, die dann eine Zeit lang ihren Lebensmittelpunkt und Arbeitsort darstellen. Bei den meisten, die so lange im Beruf bleiben, sind es sogar deutlich mehr. Wenn man sich die Agentur- und Ensembleseiten mit den Schauspieler-Lebensläufen anschaut, sieht man, dass die meisten Schauspieler*innen bei etwa zehn Städten oder zehn Theatern aufhören zu zählen. Und ich spreche gar nicht erst von all den Gastspiel- oder Festspielorten, die man nur für ein paar Tage oder Monate besucht. Dreharbeiten lasse ich außen vor, aber natürlich gibt es immer mehr Schauspieler*innen, die abwechselnd am Theater und für Film und Fernsehen arbeiten.

Schauspieler sind aber nicht die einzigen Theaterschaffenden, die zum fahrenden Volk gehören. Auch Ausstatter*innen, Planer*innen, Organsiationskräfte, Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Intendant*innen und Assistent*innen ziehen in den – je ihrem Handwerk eigenen – Zyklen weiter. Über Leadingteams und Regisseur*innen hatte ich vor kurzem schon gesprochen: war es vor 20 Jahren noch üblich, dass sie sich – ähnlich Schauspieler*innen – mit mehrjährigen Verträgen an Theater binden, in denen sie den größten Teil des Jahres arbeiten, ziehen viele Regisseur*innen heute nur von Haus zu Haus, machen zwei, drei, vier oder mehr Arbeiten im Jahr in zwei, drei, vier oder mehr Städten. Dauerhaft leben viele Regisseur*innen deshalb in Wien oder Berlin, wo sie eine Wohnung haben, die die meiste Zeit des Jahres leer steht, oder eine Familie, die sie hoffentlich an den Wochenenden sehen. Gerade unter jüngeren Regisseur*innen stößt man immer wieder auf urbane Nomaden, die buchstäblich von Theaterwohnung zu Theaterwohnung ziehen. Rock’n’Roll halt. Es gibt ein klassisches Mobilitätsgefälle in den Theatern zwischen den verschiedenen Gewerken: Ziehen die Schauspieler*innen, die künstlerischen Leitungsteams, die Dramaturg*innen, die Direktionsstäbe in Zyklen zwischen 5 und 15 Jahren weiter, bleiben Bühnentechniker, Veranstaltungs- und Haustechniker, Mitarbeiter*innen in den Werkstätten, Buchhalter und Mitarbeiter*innen der Verwaltungen ihren Häusern meistens längere Zeit verbunden. Oft ist es auch so, dass diese Mitarbeiter*innen, sollten sie den Arbeitsplatz wechseln, sich regional eher am selben Ort, dafür in anderen Branchen umsehen. Die zuvor genannten, eher zum Ensemble oder zu den Direktionen gehörenden Mitarbeiter*innen würden an ein anderes Theater gehen, dafür dann aber die Stadt wechseln. Typischer Fall: Der künstlerische Direktor eines Theaters geht, der kaufmännische bleibt.

Und das bringt uns zum sogenannten Intendantenkarussell. Das „Intendantenkarussell“ ist ein Begriff, der vereinfachend zusammenfasst, wie die Personalzirkulation zwischen den Stadttheatern vorgeht: Wechselt eine Intendantin oder ein Intendant von einem Theater zum anderen, normalerweise auch von einer Stadt zur anderen, so folgt ihm dabei meist ein großer Teil seines bisherigen Planungsstabs, der Dramaturgie und seines Schauspielerensembles. Das ist möglich, weil Verträge jener Mitarbeiter, die an dem Theater, an das unsere Intendantin, unser Intendant dann wechselt, – weil also die Verträge derer, die an diesem Theater die jeweils entsprechende Funktion bekleideten, auch nur so lang liefen, wie der Vertrag ihres dort ausscheidenden Intendanten. Der Kulturdezernent jener Stadt, der einen neuen Intendanten engagiert, engagiert in Wahrheit eine ganze „neue Truppe“. Und das ist die Idee, die in Deutschland dahintersteckt: dass „Theatertruppen“ – wie im seligen Barockzeitalter – durch die Lande ziehen, dort für ein paar gute Jahre ein Theater besetzen können, bis man sich aneinander sattgesehen hat, und dann kommt eine andere Truppe. Ich komme gleich dazu, wie fragwürdig dieser Begriff der „Truppe“ hier ist. Das berühmte „Karussell“ wird nun daraus, weil an dem Haus, das die eine Truppe verlässt, Platz für eine neue Truppe wird, während der Platz, an welchen unsere Truppe weiterzieht, ja erst mal freigeräumt sein will. Damit eine Truppe wechseln kann, müssen also eigentlich drei Häuser neu besetzt werden. Oder eher: fünf. Aber in Wahrheit müssten (und hier sehen wir, wo dieses Modell an seine Grenzen stößt), wenn alle Theaterschaffenden Teil solcher „Truppen“ wären, wenn sie stets im Verband (mit derselben Intendantin) weiterziehen würden und die Intendant*innen innerhalb unseres Systems immer dieselben bleiben und nie aus dem Spiel herausfallen würden – dann müssten immer alle Intendant*innen gleichzeitig die Plätze wechseln, und alle Verträge gleichzeitig enden. (Bei Jorge Luis Borges gibt es eine Erzählung namens „Die Lotterie von Babylon“, in der ein derartiges Positionswechseln zum Organisationsprinzip eines ganzen Staats erhoben wird.) Das geschieht aber natürlich nicht. Und das zeigt, dass das „Intendantenkarussell“ doch eher ein Denkbild ist, das die Wirklichkeit nur in einem gewissen Ausmaß abbilden kann.

In manchen Jahren kommt es der Wirklichkeit relativ nahe: so 2009, als die Intendantin Elisabeth Schweeger das Schauspiel Frankfurt verließ, um die KunstFestSpiele Herrenhausen zu leiten. In Frankfurt folgte ihr Oliver Reese nach, der zuvor interimistischer Intendant am Deutschen Theater Berlin war. Das Deutsche Theater wurde von Ulrich Khuon übernommen, der dafür das Thalia Theater in Hamburg verließ. In Hamburg folgte ihm Joachim Lux nach, der war zuvor Chefdramaturg am Burgtheater Wien unter Klaus Bachler. Bachler verließ die Burg und wurde Intendant der Bayrischen Staatsoper München, dafür folgte ihm in Wien Matthias Hartmann nach, der kam vom Schauspielhaus in Zürich, das ab nun Barbara Frey als Direktorin übernahm. Barbara Frey war zuvor freie Regisseurin, Elisabeth Schweeger musste den Stadttheaterposten aufgeben für eine Festivalleitung. Ein Zugang, ein Abgang, sieben Positionswechsel mit Familiennachzug und mitreisenden Schauspieltruppen. (Nebenbei bemerkt: 2 Damen und 5 Herren.) Zur gleichen Zeit kam Lars Ole Walburg als ehemaliger Basler Schauspielleiter nach Hannover, wo er den Intendantenposten von Wilfried Schulz übernahm, der seinerseits ans Staatsschauspiel Dresden weiterzog, von wo Holk Freytag aufbrach, um die Bad Hersfelder Festspiele zu leiten. Zwar gelingt es mir nicht, diese zweite Kette in Verbindung mit der ersten zu bringen, allerdings gelingt mir das nur auf der Ebene der Intendant*innen nicht. Wären nämlich alle Intendant*innen mit ihren kompletten „Truppen“ je ein Haus (und eine Stadt) weiter gefahren, hätte es eigentlich gereicht, zehn Reisebusse zu chartern (meinetwegen 20), etwas mehr an Möbelwagen, und alles wär ein Lack gewesen. Tatsächlich war es ein Salat: Schweeger ging von Frankfurt weg, konnte ihre Truppe, insbesondere die Schauspieler, nach Herrenhausen aber nicht mitnehmen. Reese folgte ihr, übernahm aber kaum jemanden von Schweeger. Dabei hatte er aber gar keine „Truppe“, weil vom Deutschen Theater in Berlin niemand freiwillig nach Frankfurt am Main gehen würde. Khuon wiederum hatte lauter Stars aus Hamburg, welche nur zu gerne nach Berlin gingen, mehr als in Berlin freiwillig die Plätze räumten; wer wie Lux vom Burgtheater kommt, und wenn es in das schöne Hamburg ist, dem folgt trotzdem aus Wien in der Regel kaum einer. Da wechselt man schon lieber gleich die Sparte, wie seine ehemaliger Chef Bachler das ja konsequenterweise tat. Und so weiter. Was bedeutet: auf einen Schlag tat sich ein gigantisches Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel auf, in dem hunderte Theaterschaffende sich neu orientierten, zwischenzeitlich mit drei oder vier verschiedenen Häusern verhandelten (gleichzeitig ihr Privatleben organisieren mussten), nur um danach wieder für vier und fünf Jahre arbeiten zu können. Aus der Vogelperspektive hätte man es für ein Riesenchaos halten können. Wir nennen es: ein System.

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