12 | Proben und Probieren

WasmachenDramaturg:innen?

Es gibt verschiedene Parameter, deren Schwanken man betrachten kann, um jene besonderen Ressourcen zu verstehen, die den Theatern deutscher Sprache in den 70ern und 80ern des vorigen Jahrhunderts zu Gebote standen: Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Probenzeiten, die den Produktionsteams jener Tage für einzelne Inszenierungen eingeräumt wurden.

Ein schönes Beispiel ist auch hier wieder der schon erwähnte Starregisseur Peter Zadek. In seiner Autobiografie erzählt er, wie er das Regiefach erlernt habe, nämlich in der englischen Provinz, wo in den 50ern traditionell eine Arbeitswoche zwischen erster Probe und Premiere lag (na ja: gelegen haben soll): Montags wurde der erste Akt geprobt, dienstags der zweite, mittwochs der dritte, donnerstags war Hauptprobe, freitags Generalprobe. (Und am Samstag kam das Sams zurück.) Unter diesen Umständen, sagt Zadek, habe er gelernt, was inszenieren heißt. Derselbe Zadek brauchte in den 70ern, als Intendant in Bochum, mehrere Monate bis zu einem halben Jahr, um – beispielsweise – einen Shakespeare zu inszenieren. Eine Schauspielerin, die dabei war, erklärte es mir so: „Wir hatten da als Probebühne eine ganze Etage in Hustadt (dem Universitätsviertel), auf der Probebühne gabs immer ein ganz tolles Büffet, und dann wurde Jazz-Musik gehört. Und diskutiert. Die politische Situation. Und das war ganz toll. Und nach ein paar Tagen – oder Wochen – sagte Zadek dann: Kinder, ihr seid alle so gut drauf. Spielt doch einmal etwas.“

Und ebenso wie man die Probendauer nach künstlerischem Ermessen dehnen konnte, konnte sie von einem Tag zum anderen (jedenfalls behaupten die Berichte das) beendet werden. Von dem Regisseur Klaus Michael Grüber heißt es, dass er an der Schaubühne Berlin eines Tages am Regiepult aus dem Schlaf erwachte, durch ein Handzeichen die Probe unterbrach und verkündete: „Morgen Premiere!“ Und so wurde es dann auch gemacht. (Dass kein Missverständnis aufkommt: Der Autor hält beide Regisseure für herausragende Künstler, deren Inszenierungen, jedenfalls einige davon, er sich immer wieder anschauen würde. Wenn man sie noch sehen könnte.) Insbesondere die zuletzt erwähnte Schaubühne war bekannt dafür, dass ihre Proben weniger einfache Stückproben als Recherche-Projekte waren, in denen das Ensemble alles (oder Vieles) lernte, was man über Stück, Autor*in und deren Epoche lernen konnte. Was dann dazu führte, dass die Aufführungen dieses Hauses oft als Ausgeburten des versammelten aktuellen Kenntnisstandes bezüglich William Shakespeares, Henrik Ibsens, Heinrich von Kleists usw. wahrgenommen wurden. Es gab für lange Probenzeiten also durchaus gute Gründe: Der Theatervordenker und Visionär Peter Brook verlangte, dass die Schauspieler*innen Zeit genug bekämen, einen Stücktext einerseits ganz ohne Vorbehalt oder Konzept durch Improvisationen zu erkunden – also alle Möglichkeiten einer Rolle, einer Szene, eines Satzes auszuloten – andererseits den Text dadurch so gut und gründlich zu erlernen, dass er ihnen schließlich im Spiel ganz natürlich („wie fließend Wasser“) von den Lippen käme. Auch war man der Meinung, dass Aufführungen, die mit so viel Zeit entstanden waren, im Spielbetrieb später „haltbarer“ als andere, kürzer einstudierte seien. Und tatsächlich konnte Peter Brook seine großen Inszenierungen später Jahre lang auf allen möglichen Festivals vorstellen, die Schaubühne desgleichen ihre Aufführungen im eigenen Haus in Berlin – das als Stadt und Anziehungsort für Touristen groß genug war, für dieselbe Aufführung im Lauf einiger Jahre (im Erfolgsfall) immer neues Publikum hervorzubringen. In manchen Fällen war es aber wohl auch gar nicht nötig, den herausragenden Probenaufwand wirtschaftlich zu rechtfertigen. Es soll vorgekommen sein, dass Stadttheater in der Bundesrepublik ein formal ambitioniertes Projekt starteten, nach einigen Probenmonaten dessen Scheitern feststellten, von Aufführungen absahen und das Ergebnis als Produkt einer Recherche definierten. Danach gab es zu dem gescheiterten Projekt ein Werkbuch mit Interviews und Probenfotos. Proben konnten also (jedenfalls in ökonomischer Sicht) ein geschützter Raum sein, in welchem die Theatermacher*innen nicht nur das herkömmliche Theater, sondern auch sich selbst und die Gesellschaft in Frage stellen konnten. Man musste bloß die Zeit füllen. George Tabori meditierte mit seinem Ensemble, andere engagierten Schauspiellehrer*innen anderer Kontinente und Kulturen, Lee Strasberg aus New York (der normalerweise Filmschauspieler*innen ausbildete) brachte deutschen Stadttheatermimen bei, nicht so zu übertreiben (also das, was er für Übertreibung hielt, zu unterlassen). Peter Zadek zeigte seine Inszenierungen zuerst in der Provinz in wochenlangen Try Outs (wie er es aus England konnte), und natürlich probte auch das Wiener Burgtheater unter Peymann, wenigstens für dessen eigene Inszenierungen, gerne mal monatelang. 

Selbsterfahrung und Infragestellung von Strukturen lagen in den 70ern ohnehin in der Luft, langen Probenzeiten, theatralischen Recherchen führten in dieselbe Richtung. Ein Schauspieler des deutschen Stadttheaters sprach in den späten 80ern, auf einer Probebühne irgendwo im Süddeutschen, zu mir vom „allgemeinen touch me, feel me“. Und manche Blüte dieser Strömung mag sich dem Publikum nicht leicht, und manchmal wohl auch einfach nicht erschlossen haben. Andererseits ist es unbestritten, dass der Formen- und Erfindungsreichtum, die kreative Explosion des Theaters dieser Jahre ohne die beschriebenen Selbsterfahrungstrips nicht denkbar gewesen wären. Habe ich weiter oben die Behauptung aufgestellt, dass es ein Regietheater schon viel länger gab (mit allen Zutaten und Aufregern, die Kritik und Publikum zum Kochen brachten), so muss ich doch auch einräumen, dass eben dies Regietheater durch die Selbstfindungsprozesse und die Selbst-Infragestellungen der 70er und 80er einen größeren Schritt machte als jemals zuvor. Es sollte auch nicht unterschlagen werden, dass durch die Experimente – neben dem Regietheater – zunehmend auch die Ensembles und das kollektive Element des Theatermachens ins Bewusstsein rückte. Am herausragendsten in den Mitbestimmungsmodellen einiger Theater. Doch das ist ein anderes Kapitel. Zurück zu unseren Probenzeiten. Wie sieht es heute damit aus? Proben die Theater immer noch so lang? Natürlich waren lange Probenzeiten immer eine Ausnahme, die vor allem Stadttheater nur für einzelne Projekte machen konnten. Und einzelne Theater oder freie Gruppen tun dies auch noch immer. Im Allgemeinen aber dauern Stückproben heute zwischen sechs und acht Wochen, dabei wird an fünf bis sechs Wochentagen vormittags (von 10 bis 14 oder 15 Uhr) und abends (von 19 bis 21 oder 22 Uhr) geprobt. (Alle Angaben ohne Gewähr.) In diesem Proben-Rhythmus könnte übrigens ein einzelner Schauspieler in einer Saison bis zu sechs Rollen einstudieren, wenn immer eine Produktion ohne Lücke auf die andere folgte (was häufig nicht der Fall ist). Würde in einem Sprechtheater mittlerer Größe (wie dem Landestheater Linz) ein größerer Teil des Ensembles (beispielsweise die Besetzung für ein Shakespeare-Stück) für eine einzige Produktion doppelt oder dreimal so lang proben, käme die Gesamtdisposition seines Spielplans in arge Bedrängnis. Der verbleibende Teil des Ensembles könnte schwerlich die normale Zahl an notwendigen weiteren Premieren stemmen.

Dass das vor 40 Jahren an einigen Theatern anders oder gar nicht von Bedeutung war erklärt sich aus besonderen, von Ort zu Ort auch abweichenden Konstellationen: So ist die Schaubühne Berlin zum Beispiel ein Privattheater, das bis heute weniger Premieren produziert, als Stadttheater gleicher Größe dieses tun. Die Schaubühne kann sich das unter anderem deshalb leisten, weil – wie oben schon erwähnt – Berlin so groß ist, dass sogar ein kleineres Repertoire von Stücken genug Zuschauer zur Selbsterhaltung des Theaters generieren kann, wenn diese kleinere Zahl Stücke grundsätzlich erfolgreich ist. (Theater in kleineren Städten brauchen meistens mehr Premieren, weil dieselben Zuschauer häufiger zum Besuchen des Theaters gebracht werden müssen.) Das Burgtheater wieder konnte ohne weiteres auch 20 oder 30 Schauspieler für ein halbes Jahr in eine Produktion mit ungewissem Ausgang stecken, ohne dass der Produktionsablauf des übrigen Repertoires dadurch gestört wurde. Vermutlich hing das mit der sprichwörtlichen Personalstärke seines Ensembles zusammen. Aber auch normale Stadttheater konnten sich dergleichen früher eher leisten, da auch ihre Ensembles spürbar größer waren, als sie es heute sind. Nun gibt es auch noch heute Stadttheater mit sehr stattlichen Ensembles, so in München oder Hamburg, die derartige Experimente trotzdem eher nicht mehr unternehmen. Und das könnte mit einer Schwierigkeit zusammenhängen, die sich vor 30 oder 40 Jahren so nicht gestellt hätte. Gewährt man einem Regisseur, drei Monate zu proben, warum sollten andere Regisseure das dann nicht dürfen? Viele Regisseure hätten heute vielleicht gar nicht das Interesse, so lange zu proben. Andere – die, die genug Zeit haben, – hätten dies Interesse aber vielleicht doch. Und eine solche Ungleichbehandlung im Repertoirebetrieb wäre heute schwerer zu rechtfertigen als 1970. Was wieder daran liegen mag, dass vor 50 Jahren am Stadttheater die Hierarchien noch viel steiler waren als heute. Tatsächlich werden heute heftige Debatten ausgetragen um hierarchische Strukturen und Ungleichbehandlung im Theaterbetrieb. Und in dem Zusammenhang wird dann gern darauf verwiesen, dass im deutschsprachigen Raum ein Theatersystem praktiziert wird, dass zurückgeht auf feudale Zeiten. Dabei wird auch immer wieder eingeräumt, dass wir diesem System nicht nur unser Netz von Stadt- und Staatstheatern verdanken, sondern auch solche Gewächse wie das hier erörterte Regietheater mit seinen sowohl autoritären als antiautoritären Tendenzen. Doch was ist da eigentlich mit dem Wort „System“ gemeint und warum haben die deutschsprachigen Länder dies System gemeinsam?

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