Im Zusammenhang mit Fragen der Besetzung haben wir das Thema weiter oben schon einmal gestreift. Und Tatsache ist: Auch „richtige“ Theaterstücke kommen häufig nicht genauso auf die Bühne, wie sie Philipp Reclam oder Friedrich Schlegel in gedruckter Form vorlegen. Dieses aber führt uns in ein anderes Gebiet, zu dem zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zurückzukommen ich schon angekündigt hatte.
Dies Gebiet umreißen die Begriffe „Werktreue“ und „Regietheater“: Weiter oben habe ich behauptet, das verstärkte In-Erscheinung-Treten von Dramaturg*innen in der Theatergeschichte werde häufig mit dem Siegeszug des Regietheaters in Zusammenhang gebracht. Und bevor ich nun darüber spekuliere, warum das so sein könnte, sollten wir uns den Begriff Regietheater etwas näher anschauen.
Das Wort kommt aus den 70ern, obwohl es Regisseure schon viel früher gab, vielleicht sogar die größten Regisseure (Piscator, Reinhardt, Stanislawski, usw.). Womöglich also brauchte es bloß die Jahrzehnte, bis die wirkliche Bedeutung der Funktion der Regisseur*innen von einem breiten Publikum erfasst wurde. Dann bezeichnet der Begriff allerdings auch nicht einfach jegliches Theater, das von Regisseur*innen inszeniert wird, sondern nur eine bestimmte Sorte davon. Und zuletzt ereigneten sich in den 70ern womöglich Dinge, die dieses Regietheater wirklich erst zu dem machten, was wir – wenigstens heute – darunter verstehen. Schauen wir uns eines nach dem anderen an:
1.) Das langsame Eindringen der Regisseur*innen
Regisseure, Spielleiter, gewinnen an Bedeutung, sobald die europäischen Theater sich Repertoires von Stücken früherer Epochen zulegen bzw. Stücke wiederaufnehmen, die lange genug nicht in ihren Spielplänen waren, dass die Aufführungsweise sich aus gegenwärtigen Theaterkonventionen nicht mehr ohne weiteres erschließt. Johann Wolfgang Goethe, selbst Theater-Regisseur, beschreibt diese Entwicklung am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ mit der Schilderung einer „idealen“ Hamlet-Inszenierung, die der Titelheld, begeistert von der Shakespeare-Lektüre, mit einer Theatertruppe erarbeitet. Wilhelm Meister entwickelt jede Szene, Bühne und Kostüm aus den starken Eindrücken seiner Lektüre und erfindet so eine Methode, die verhindert, dass die in der Truppe einflussreichen Schauspieler die Aufführung nur aus den Blickwinkeln von einzelnen Figuren oder den Interessen ihrer Darsteller gestalten. Man könnte sagen: Wo der Autor lange genug tot ist oder weit genug entfernt, tritt der Regisseur auf den Plan. Ähnliches gilt hundert Jahre später umso mehr, da es keine einheitlichen Spielstile mehr gibt. Nun muss ein Spielleiter entscheiden, an welche Mode, welche Konvention eine Aufführung sich anlehnt, welche Klammer überhaupt noch das Zusammenspiel der Schauspieler gewährleistet. Je größer die formalen Möglichkeiten der Theater, desto wichtiger wird – logisch – der Entscheider, der die Wahl darunter trifft. Dabei versteht der Regisseur, wie Goethe, sich zunächst als der verlängerte Arm des Dramatikers, dessen Geist er sich verpflichtet fühlt. Er löst damit den Schauspielprinzipal ab, also den regieführenden Hauptdarsteller, der – gewissermaßen von der Bühne aus – die Regiefunktionen innehatte, ehe diese ausgegliedert und in den Zuschauerraum (ans Regiepult) verlegt wurden. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass auch Goethe schon als Regisseur am Willen großer Schriftsteller vorbeiinszenierte: Berüchtigt ist der Reinfall mit der Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“, für die Goethe so lang an dem Stück herumgedoktert hatte, bis es durchfiel und zu Lebzeiten des Autors das Licht der Bühne nicht mehr wiedersah. Da in diesem Fall der Regisseur (Goethe) berühmter als der Autor (Kleist) war, blieb der Misserfolg an letzterem hängen. Nun differenzieren sich im 19. Jahrhundert, auch durch bühnentechnische Erneuerungen, die Ästhetiken der Bühnen soweit aus, dass die Nutzung und Gestaltung dieser neuen Möglichkeiten, also das gesamtästhetische Design der Inszenierung, neben der Verwaltung der Autorenabsichten, zur zweiten, wichtigeren Aufgabe des Regisseurs wird. (Da wir immer noch das 20. Jahrhundert nicht erreicht haben, muss es noch ein bisschen bei der männlichen Form der Berufsbezeichnung bleiben.) Diese zweite Aufgabe, die Festlegung oder Erfindung der Gesamtästhetik aber macht die Regisseure Schritt für Schritt zu Koautoren, ihr Einfluss auf das Endergebnis einer Aufführung wird immer größer. Mit der Jahrhundertwende setzt die große Zeit der Theaterregisseure ein, einige Namen habe ich, in Klammern, weiter oben schon erwähnt. Und alle Möglichkeiten, allerdings auch Aufreger des Regietheaters, die noch heute gerne leidenschaftlich diskutiert werden, gehen schon in diesen Jahren durch die Feuilletons: Unerwünschte Dauer oder unerwünschte Kürze von Theateraufführungen, Modernisierungen („Hamlet im Frack“), scheußliche Kostüme, Nackte, auffällige Sprachbehandlung, Überdeutlichkeit, Unverständlichkeit, usw. usf. Notabene: Der Begriff Regietheater existiert noch gar nicht.
2.) Der Begriff Regietheater
Das Wort ist offenbar ein Kampfbegriff. Geprägt in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, subsumierend Phänomene, die älter sind als das Jahrzehnt. Und zunächst abwertend gemeint. Bezogen auf eine Ermächtigung der Regisseur*innen, die als zu weit gehend empfunden wird. Gern verbunden mit der Sehnsucht nach einem Theater, in dem Autor*innen und Schauspieler*innen wichtiger, die Regisseur*innen unwichtiger waren. Das Wesen eines Kampfbegriffes ist, dass ihn eher nicht verwendet, wer größtmögliche Objektivität anstrebt. Regisseur*innen und Theatermacher fühlen sich von der Debatte missverstanden. Wirklich sind die Argumente alt und die Auseinandersetzung ähnelt stark den Diskussionen um das Regietheater der Zwischenkriegszeit.
3) Aber was ist denn dann in den 70ern passiert im Stadttheater?
Die naheliegendste Erklärung: Die 70er waren geprägt von der Studentenbewegung des Jahrs 1968. (Die Rede ist von deutschsprachigen Ländern diesseits des Eisernen Vorhangs.) Die Aufarbeitung von Krieg und Naziherrschaft, war – auch im Theater – in den ersten 20 Jahren nach dem Krieg eher zaghaft angelaufen. 1968 führt auch auf der Bühne eine radikale Hinterfragung nicht allein von Inhalten sondern auch von Mitteln und von Form herbei. Bald entwickelt beinah jeder Bruch mit Sehgewohnheiten antifaschistisches Potenzial. Der Regisseur Peter Zadek, der sich am rhetorischen „Reichskanzleistil“ professionell ausgebildeter Staatsschauspieler stößt, ermutigt seine Darsteller zu undeutlichem Sprechen, gar zum „Nuscheln“. Schillers jugendliche Helden, welchen immer schon gewisse nationale, hochfahrende Töne eigneten, werden auf der Bühne abgeklopft auf ihre Psychopathologie. Die ausgewiesenen Bösewichte in der Schiller-Welt, Franz Moor, Philipp der Zweite, werden umgekehrt mitunter rehabilitiert. Alles steht Kopf. Die politische Agenda befördert und bekräftigt den Regiemutwillen. Aber war das bereits eine neue Qualität? Womöglich. Allerdings darf die explosive Wirkung, die manche Regieprovokation auf das Publikum und die Kritik hat, nicht isoliert gesehen werden vom kollektiven Trauma, dass die jungen Regisseure adressieren, und das sich – gerade da, wo es nur indirekt berührt wird – in umso heftigeren Reaktionen äußert. Das heißt: nicht nur die Regisseure wurden frech, ein Teil des Publikums war für diese Frechheit vielleicht auch empfindlicher als das Publikum anderer Epochen es gewesen wäre. Aber heißt das, der Begriff Regietheater wurde eigentlich von alten Nazis geprägt, die sich im Theater nach schmerzloser Unterhaltung sehnten? Oder radikalisierten sich – demgegenüber – auch die Regisseur*innen und die Theatermacher*innen, bis die Bühne eine andere Sprache sprach als ihr Publikum? Für die weitere Erörterung dieser Frage bitte ich um etwas Geduld. Es geht gleich weiter.