Es gibt aber eine Menge Menschen, die sich genau darüber Gedanken machen. Im aktuellen Bildungsbericht Österreich 2018 werden die von Ihnen genannten Ziele wie Kooperation und die Vermittlung von Fähigkeiten, die einen Menschen als mündigen Bürger in einer Demokratie agieren lassen, als Ziele genannt und formuliert. Warum bleibt die Umsetzung dieser Ideen dann aus? Warum – mit Ihren Worten – ist unser Schulsystem nicht reformierbar?
Weil seine Steuerung anderen Interessen unterliegt? Weil es das Interesse des Schulsystems ist, die Menschen soweit zu bringen, dass sie in diesem Wirtschaftssystem funktionieren. Das ist das Ziel. Wenn wir aber tatsächlich demokratische Strukturen anstreben, dann müssen wir strukturell denken und die Struktur der Schule verändern. Nach meinem Informationsstand enden Bemühungen in Sachen Demokratie an der Schule immer damit, dass man glaubt, man könne Demokratie unterrichten, indem jemand etwas darüber erzählt. Ich glaube aber, dass Demokratie in der Schule gelebt werden muss, und zwar vom ersten bis zum letzten Moment. Das ist aber gar nicht gewollt, weil dann ja die Leute auf die Idee kommen könnten, auch andere gesellschaftliche Bereiche mit Demokratie zu erfüllen. Im Grunde sehne ich mich nach der alten Vision von Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen!“ (1969). Dieses Prinzip müsste man in allen gesellschaftlichen Bereichen zur Anwendung bringen, in Betrieben, im Rechtssystem, in der Politik. Aus diesem Grund sehe ich wenig Hoffnung, dass das System reformierbar ist. Ich würde eine Neugründung der Institution Schule empfehlen.
Mein Eindruck ist, – und davon haben Sie auch schon gesprochen – dass zum Thema Schule jeder etwas sagen kann. Die eigene Schulzeit ist mit starken emotionalen Erfahrungen verbunden. Mir scheint es manchmal, dass diejenigen, die die Schulzeit überstanden haben, diese nicht einfache Zeit der Bevormundung und „Prüfungen“ auch an die nächste Generation weitergeben möchten. Auch wenn man die Schule zur eigenen Schulzeit stark kritisiert hat, kommt der Abgleich der heutigen Erziehungsverhältnisse mit denjenigen der eigenen Schulzeit immer wieder zur Anwendung. Es fallen Formulierungen wie „Bei uns hätte es das damals nicht gegeben!“ Trotz einstiger Ablehnung möchte man die Methoden der eigenen Vergangenheit wieder auf die aktuelle Schüler*innengeneration angewendet wissen. Das ist ein eigenartiger Widerspruch.
Mir ist das erst durch meine eigenen Kinder klar geworden. Ich bin jetzt sozusagen Zuschauer und sehe, so glaube ich, die Strukturen viel klarer als in der Zeit, in der ich selbst in der Schule war. Es ist ja ganz einfach: Wir haben zum Beispiel Zeugnisse aus dem Jahr 1880/1890 angeschaut. Es gibt fast überhaupt keinen Unterschied zu den Zeugnissen von heute. Vielleicht ist die Betragens-Note nicht mehr so wichtig, aber die Struktur ist gleichgeblieben, die Art der Beurteilung. Je älter ich werde, umso mehr lege ich Wert auf das selbstbewusste Staatsbürgertum, auf den „Citoyen“. Und ich finde es eine Zumutung, dass ein Mensch neun oder zwölf Jahre ununterbrochen von anderen beurteilt wird. Ich glaube, dass solch ein Vorgehen nicht in eine aufgeklärte, demokratische Gesellschaft gehört. Ich glaube eher, dass die Vorstellung, gemeinsam auf eine neue zivilisatorische Ebene zu kommen, die richtige Idee wäre.
Offenbar scheint eine Reform ja mit großen Ängsten verbunden zu sein, der Befürchtung, dass eine Struktur, an der man sich zeitlebens orientiert hat, wegbricht, eine Orientierung plötzlich nicht mehr möglich ist, dass auch unter wirtschaftlichen Aspekten das menschliche „Material“ nicht mehr in die vorgesehenen Schemata passt. Auf der anderen Seite sorgen sich viel weniger Menschen um die Aufrechterhaltung unserer demokratischen Staaten. Umfragen zeigen, dass ein immer größerer Teil auch der jungen Leute sich die Abkehr von der Demokratie vorstellen kann und sich teilweise sogar ein autoritäres System wünscht.
Die Schule hat von der Demokratie überhaupt keine Ahnung. Demokratie erlernt man über das Erleben, Erfahren, das Üben, das Ausüben, Beurteilen, Urteilen, Abwägen, Niederlagen ertragen lernen usw.
Die Ängste vor der Demokratie scheinen größer als die vor einem autoritären System.
Das autoritäre System lernen wir ja. In ihm können wir uns orientieren.
Ich möchte nochmal auf den Begriff „pars pro toto“, den Sie zu Beginn genannt haben, zurückkommen. Das, was Ihr Werk über die Chronik einer einzelnen Schule hinaus gehen lässt, ist die Frage, die dahintersteht und die heißt: Wie wollen wir leben?
Genau. Und das wird dann oft ganz konkret. Es gibt so ein heiliges Wort, das in unserer Gesellschaft und auch in der Schule so oft verwendet wird. „Leistung“. Wenn ich das Wort „Leistung“ höre, dann muss ich unwillkürlich lachen, weil als die sogenannten „Leistungsträger“, diejenigen bezeichnet werden, die uns die verpesteten PKWs verkaufen, die uns schamlos belügen und betrügen. Wenn mir ein Lehrer von der „Leistung“ eines Schülers erzählt, muss ich ihm ins Gesicht lachen, weil das nicht das ist, was ich für meine Kinder als erstrebenswert ansehe. Was wir lernen sollten, sind Zusammenarbeit, soziale Kompetenz, Teamfähigkeit!
Eines muss ich allerdings noch ergänzen: Man kann gar nicht oft genug betonen, welche unglaubliche Macht eine einzelne Lehrerin, ein einzelner Lehrer hat. Und man sollte nicht die Person des Lehrers mit dem System verwechseln – obwohl Lehrer das selbst gerne tun. Es ist jedoch unglaublich, welche Freiräume sich einzelne Menschen auch in dem beschriebenen System erkämpfen können und mit den Kindern ganz anders arbeiten, als erwartet wird. Das hat es schon in meiner Schulzeit gegeben und das gibt es auch bei meinen Kindern. Man sieht, dass auch hier, in der individuellen Ausgestaltung von Unterricht viel möglich ist.